Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und reiche Fülle haben.                                                                     Johannes 10,10

Predigt von Pfr. Mathias Rissi in Niederweningenim Neuen Abendgottesdienst am 30. März 2019

Liebe Gemeinde

»Gesegnet sei der Schmerz. Geliebt sei der Schmerz. Geheiligt sei der Schmerz. Verherrlicht sei der Schmerz!« – das ist wirklich extrem, nicht?  Denn diese Sätze klingen wie eine Anleitung für Masochisten. Das ist leider nicht erfunden und ich bin sicher, sie kommen einigen von Euch bekannt vor seit dem Roman und dem Film »Sakrileg«. Im Opus Dei, diesem unheimlichen Orden, gehören diese Sätze zur täglichen »Buß-Praxis«. Ein Numerarier (so nennen sich die festverpflichteten Mitglieder) hat letztes Jahr sogar im Interview mit dem Tages Anzeiger bekannt, daß er täglich mindestens zwei Stunden den Bußgürtel trage. Das ist ein Metallband mit nach innen gerichteten Dornen, das Männer und Frauen satt am Oberschenkel tragen. Oder sie züchtigen sich am Samstag mit der »Disciplina«, einer  fünfschwänzigen Geißel. Na, Mathis, werdet Ihr einwenden, jetzt trägst Du aber dick auf; das sind einige Extremisten, welche das Mittelalter in die Gegenwart hinein »retteten«. Aber das ist nicht normal.

Es stimmt, ich halte das nicht für normal und in meinem Studierzimmer hängt auch keine Disciplina hinter der Tür. Denn das ist nicht Hingabe an Gott, sondern Hingabe an den Schmerz! Allerdings ganz  fremd ist diese Einstellung auch unserer Kirche nicht, daß man sich nicht zu sehr auf die Freuden der Welt einlassen dürfe. Mit zwanzig begegnete ich noch einer jungen Frau, die sagte, sie hätte nie Tanzen oder Kartenspielen dürfen, das sei Sünde. Oder dies: Unser Christsein ist eine ernste Sache. Eine Umfrage hatte das Thema: »Macht Besuch des Gottesdienstes Spaß?« – Interessanterweise korrigierten viele Antwortende, strichen und ersetzten das Wort Spaß durch »inneren Gewinn« , »Ermutigung« oder »tiefe Freudigkeit« – Die Freudigkeit muß dann eben innerlich sein, wenn sie nicht direkt erlebt werden kann. Ich erinnere mich an einen meiner ersten Gottesdienste hier in Meilen vor achtzehn Jahren. Da hatte ich offensichtlich ein Tabu gebrochen, als ich in der Predigt einen Witz erzählte. Die Gottesdienstbesucher waren das damals noch nicht gewohnt und sie schauten einander betroffen an 'Das war doch ein Witz – um Himmels willen, wie sollen wir darauf reagieren, darf man denn in der Kirche lachen'. Das hat sich glücklicherweise inzwischen etwas geändert, Gottesdienste dürfen heiter sein.

Aber in Zweifelsfalle halten sich immer noch viele daran, daß Christsein ein ernste Sache sei. Es gehörten zum echten Christsein eben doch Verzicht und Schmerzen. – Wie weit weg sind die Kirche und die Christen von dem, was Jesus gewollt und gebracht hat! Jesus spricht: Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und reiche Fülle haben.  – Fülle, Überströmen, Überfluß, maßlos – die Griechen verstanden darunter etwas Negatives. Sie waren überzeugt, daß man das rechte Maß nicht aus den Augen verlieren dürfe. – Und  Jesus bringt genau das Gegenteil: Fülle!

Aber: Sind wir das, wir Christen von Meilen und Umgebung: »Leben in Fülle, maßloses Leben, satt?«  Woran liegt es, daß man nicht zu uns Christen kommt um das Leben genießen zu lernen oder in Fragen des Lifestyle?

Es hat zwei Gründe, sie gründen in zwei Affären die das Christentum hatte.

1. Die verhängnisvolle Affäre des Christentums mit der hellenistischen, neuplatonischen Philosophie, aus der die "Leibfeindlichkeit" der Christen erwachsen ist.
2. Die verhängnisvolle Affäre mit der bürgerlichen Moral im 17. Jahrhundert, aus der die "Moralinsäure" der Christen erwachsen ist.

Die erste verhängnisvolle Affäre ist ganz früh geschehen: zwar hatte im ersten Jahrhundert das Evangelium im Sturmesbrausen Menschen im ganzen römischen Reich erfaßt: Menschen die einfach auf Christus vertrauen wollten und konnten. Um aber die High Society zu gewinnen, verbrüderten sich etliche Theologen in fatalster Weise mit der hellenistischen Philosophie mit ihrer Leibfeindlichkeit. Die konnten etwas sagen 'soma sēma'. Dieses griechische Wortspiel heißt: der Körper ist das Grab der Seele!
Wie ganz anders lesen wir im neuen Testament: bei Paulus: Wißt ihr nicht, daß euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist? (1. Kor 6,19)

Wie konnte sich der Irrtum nur so tief einfressen? Er hat die böse Leibfeindlichkeit der neuplatoischen Philosophie eins zu eins übernommen und den Christen über Jahrhunderte eine »verknorzte« Einstellung zum Genuß, Sexualität, zu allem Emotionalen eingetrichtert. Wenn man etwas genießen wollte, mußte man immer ein schlechtes Gewissen haben.
Die Askese galt als Ideal und trieb die seltsamsten Blüten: die Säulenheiligen in Ägypten waren christliche Eremiten, die sich ihr Leben auf einer etwa vier Quadratmeter großen Platte auf einer bis zu zwanzig Meter hohen Säule einrichteten, um weiter weg von der schnöden Erde und näher bei Gott zu sein.

Ganz anders lese ich in Prediger 9,7-9: So geh hin und iß dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dies dein Tun hat Gott schon längst gefallen.  Laß deine Kleider immer weiß sein und laß deinem Haupte Salbe nicht mangeln. Genieße das Leben mit deiner Frau, die du lieb hast, solange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat. – Alles klar?

Na gut, meint jetzt vielleicht jemand, so steht es im Alten Testament, aber im Neuen würde das nicht mehr gehen!  Wirklich? Das erste Zeichen im Johannesevangelium ist das Wunder an der Hochzeit zu Kana (Joh 2,1-11). Da verwandelt Jesus Wasser in … Essig? Nein: 600 Liter Wasser verwandelt er in besten zwölfprozentigen Wein, damit die Hochzeitsgesellschaft nicht auf dem Trockenen sitzt. 600 Liter – da haben gewiß einige der Gäste mehr als genug davon bekommen…
Wie ein roter Faden zieht es sich durch die Evangelien. Wo Jesus hinkommt bringt er Heilung, Heil, Fülle, Überfluß und die Menschen werden froh!

Die zweite verhängnisvolle Affäre des Christentums ist die mit der bürgerlichen Moral. Im 17. Jahrhundert war Europa nach dem 30-jährigen Krieg am Boden, die Sitten zerfallen. Da bezog die Kirche Stellung für Sitte und Moral. Christ war, wer streng nach den Geboten Gottes lebte – was damals sinnvoll war, verdichtete sich zu einem starren System von Regeln und Normen, die man befolgen mußte, um sich Christ nennen zu dürfen. Und so wird es ganz einfach eine Grenze zu ziehen, was christlich ist, und was nicht. Heute ist das einwenig komplizierter: Die einen erwarten, daß man schön rechts denkt und für »Ruhe und Ordnung« eintritt, andere verlangen eine rote oder grüne politische Färbung, sicher nachhaltig und umweltbewußt. Dann bekommt man das Label »christlich« - das mag gut sein, aber es ist nicht christlich.

Das Neue Testament vertritt nämlich ein dynamisches Konzept. Nicht Maßstäbe, Regeln und Abgrenzungen stehen im Vordergrund, sondern die Beziehung zum Zentrum: Jesus Christus! Also daß jemand sagt: 'Ich habe nichts Besseres gekannt und bin meinen Wegen gefolgt, bis ich Christus kennenlernte, und jetzt folge ich ihm nach!'

Christen sind eben gerade Menschen, die von all den »Soll-Muß-Darf-nicht-Katalogen« befreit sind durch die Beziehung zu Jesus Christus, zu Gott. So kann Paulus dann etwa sagen: Ich weiß in Niedrigkeit zu leben, ich weiß auch Überfluß zu haben; in alles und jedes bin ich eingeweiht, sowohl satt zu sein, als zu hungern, sowohl Überfluß zu haben, als Mangel zu leiden. Alles vermag ich durch den, der mich stark macht: Christus. Philipper 4,12f
Er ist dem Überfluß, wie auch dem Mangel gewachsen. Er kann beides. Wer hingegen von allen sinnlichen Genüsse
n abstinent ist, indem er sich die Fähigkeit, von ganzem Herzen zu genießen, abtrainiert hat, ist nicht frei  Genausowenig wie ein hedonistischer Mensch, für den die ständige Fütterung mit sinnlichen Reizen zur Abhängigkeit, zur Sucht geworden ist. Beide Formen sind von dem, was uns das Neue Testament über Freiheit lehrt, gleich weit entfernt. Wer es gelernt hat, all das Gute, das uns Gottes Schöpfung bietet - Essen, Trinken, Sexualität, Farben, Töne, Wasser, Licht, andere Menschen - dankbar zu genießen, der ist auf dem Weg zu der Art von Freiheit, an der Gott seine Freude hat.

Ich fasse kurz zusammen: 'Würden die Christen doch nur erlöster aussehen, dann würde ich auch an ihren Erlöser glauben', sagte schon Nietzsche. Recht hat er insofern: Wie haben doch Leibfeindlichkeit und Moralin das Christentum entstellt! Zumindest so hat dieser Kritiker es kennengelernt: ein Zerrbild, das es zu oft gegeben hat. Aber es hat auch immer mehr als genug Christen gegeben, die sich auf diese verhängnisvollen Affären nicht eingelassen haben.

Wir wollen daher mit Freude und Glaubensüberzeugung die Welt nicht fliehen, sondern wie Christus uns ihr zuwenden. Er ist gekommen, uns Leben und reiche Fülle zu bringen, und nicht um uns unser Leben zu verderben mit saurer Moral und Entsagung! Denn es geht im Christentum nur um eines: Um unsere persönliche Begegnung mit dem lebendigen Gott und unsere Beziehung zu Jesus Christus

Amen

Pfr. Mathias Rissi

 

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