Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter 27. Juni 2004 in Meilen ZH
Lukas 10,25-37 - Pfr. Mathias Rissi Hebr 6,19 Heb 6:19
Liebe Gemeinde
Die Straße nach Jericho ist die normalste Straße der Welt. Sie macht viele
Umwege. Sie führt auch an Ihrem Haus vorbei. Sie geht mitten durch Ihre Küche
und die Stube, sie kommt am Arbeitsplatz vorbei. Die Straße von Jerusalem nach
Jericho ist die Straße von einem Gottesdienst zum nächsten Gottesdienst. Sie ist
eine gefährliche Straße. Man kann nämlich unter die Räuber fallen. Das ist
schlimm. Und das ist nicht einmal die größte Gefahr, zusammengeschlagen zu
werden und liegen zu bleiben. Denn man kann auf ganz andere Weise auf der Straße
des Lebens umkommen. - Jesus zeigt mit der kleinen Geschichte zwei Gefahren: Man
kann liegenbleiben und man kann am Wesentlichen vorübergehen.
Liegenbleiben – das ist die Not unserer Zeit. So viele Menschen sind
liegengeblieben. Die Straße des Lebens ist gesäumt von Liegengebliebenen: da ist
der Prokurist, der infolge von Umstrukturierung entlassen wurde, oder der
Landwirt, der sich ob den großen Veränderungen in Europa sorgt, ist seine Arbeit
noch gefragt? Oder viele Menschen, die in den Spannungen am Arbeitsplatz oder in
den Beziehungen immer wieder auf die Zähne gebissen oder geduldig eingesteckt
haben, aber sie sind nicht glücklich: in ihrem Vermitteln sind sie selbst zu
kurz gekommen und abgestumpft. Liegengeblieben: Menschen, die finden, daß in
ihrem Leben nichts passiere, Menschen die im Krankenbett liegen und keine gute
Diagnose haben. Liegengeblieben ist fast eine ganze Generation, die trotz
Mahnung seit Jahren nur Machtlosigkeit gegenüber dem Technikwahn empfindet. Oder
es beschäftigt uns der Kriegswahnsinn – kann man etwas ändern? Ist es nicht zum
Verzweifeln? Wir sammeln für Olivenbäume in Palästina und kaum sind sie
eingewurzelt, verwüsten israelische Panzer den Hain! Bombenterror...
liegengeblieben... Wir sind es alle, auch du und ich, auf die eine oder andere
Art.
Und nun kommt der Samariter. Es ist ganz klar: der Samariter muß helfen. Seine
Ausbildung und sein Ethos verpflichten ihn dazu. - Aber wir wissen genau, daß
die heutigen Samariter sich von diesem Gleichnis her ihren Namen gegeben haben,
und daß schon damals nicht alle Samaritaner so handelten. Wir wissen auch, daß
heute die Wirklichkeit anders aussehen kann, daß der barmherzige Samariter
vergessen geht. So hat eine Samariterin aus Meilen mir letzthin geklagt: «Wir
sollten an immer mehr Veranstaltungen präsent sein, haben aber immer weniger
Mitglieder. Vor allem die Jungen fehlen uns!» - Wehe, wenn wir den vergessen, der diese Geschichte erzählt
hat. Denn er, Jesus Christus, hat es auch getan, wie der Samariter. Er riskiert
alles, und bezahlt einen teuren Preis. Der Samariter riskiert auch einiges,
nimmt Unannehmlichkeiten in Kauf und er bezahlt den Wirt. Jesus Christus hat
alles riskiert. Er ist ganz in den Tod gegangen. Das mußte so sein, wenn er zu
uns kommen wollte. Wir sind schließlich auch nicht nur halb liegengeblieben,
sondern ganz verloren vor Gott. Und da kommt Christus zu uns. Das ist die
herrlichste Realität, die gewaltigste Tatsache: wo und wie du auch liegen
geblieben bist: Christus kommt dir zu Hilfe!
Also laß dir helfen! Das sagt die Geschichte zuallererst. Wer wollte da so dumm
sein und sich nicht helfen lassen? – Aber, geht es denn in diesem Gleichnis
nicht darum, andern zu helfen?
– Sie haben gewiß bemerkt, wie Jesus die Frage: Wer ist denn mein Nächster?
umkehrt und fragt: Wer ist dem der nächste, der am Boden liegt. Natürlich sagt
er auch: Liebe deinen Nächsten, natürlich – aber: laß zuerst dir helfen. Alles
andere kommt danach.
Von da aus wollen wir noch einen Blick auf die drei Männer auf der Straße
werfen: Und damit kommen wir zur zweiten Gefahr: Du kannst am Entscheidenden
vorbeigehen. Da ist der Priester. Er kommt wohl direkt vom Gottesdienst. Der
Levit, ein Tempelangestellter, genauso. Vielleicht sind sie nicht einmal bösen
Willens, sondern haben den Kopf voller anderer Dinge: Die Reform des Tempels,
die Frömmigkeit der Leute, die Details der Opferzubereitung etc. Vielleicht sind
sie auch einfach müde. Vielleicht finden sie es sogar entsetzlich, daß da schon
wieder einer überfallen wurde - egal, beide gehen am Entscheidenden vorbei. Aber
ausgerechnet ein Samaritaner fragt nicht lange, weder nach Theologie noch
Politik, sondern tut, was für die Liebe eine Selbstverständlichkeit ist. - Jesus
meint nicht: jeder Samaritaner, sondern ausgerechnet der Samaritaner! Wir würden
wohl sagen: ausgerechnet einer «wo am Tüüfel abem Charre gheit isch» - der da so
sympathisch, menschlich, richtig handelt: er hilft, lindert und pflegt. Und
Jesus schließt: Geh auch du hin und tue desgleichen!
Vielleicht finden wir das manchmal reichlich einfach. Kann man denn einfach so
helfen? Könnte es nicht auch Unrecht sein, nur zu helfen! Wäre manchmal nicht
eher eine Aktion gegen das Banditenunwesen an der Straße von Jerusalem nach
Jericho am Platz? - Die Liebe muß gewiß aufpassen, daß sie nicht Unrecht duldet
oder fördert.
Hier wird es wichtig daran zu denken, daß Jesus dem Fragesteller die Frage
umgekehrt gestellt hat, damit wir das nie vergessen, daß wir als Einzelne und
als Kirche zuallererst die sind, die sich von Christus helfen lassen. Die
wissen, daß die Welt der göttlichen Hilfe bedarf, und wissen, daß Gott zu uns zu
Hilfe kommt. Ohne ihn wären wir hoffnungslos überfordert und würden resignieren.
So ist Jesus ja auch nicht einfach nur ein Lehrer und vorbildlicher Mensch, der
uns zur Nächstenliebe anleitet, sondern darum ist er zuerst zu uns
Liegengebliebenen gekommen und kommt immer wieder neu, um uns aufzurichten,
damit wir in unserm Handeln sein Ebenbild sein können. Weil Jesus Christus uns
aufgerichtet hat, können wir es dann zuversichtlich aufnehmen: Gehe hin, tue
desgleichen.
Orientierung dabei könnte
dieses Gebet[1]
andeuten:
Herr, schenk mir Gelassenheit, die Dinge anzunehmen,
die ich nicht ändern kann. Gib mir den Mut, zu ändern, was
ich ändern kann
und gib mir die Weisheit, das eine vom andern zu
unterscheiden.
AMEN
[1] Dieses sog. Oetingergebet soll der württembergische Prälat Friedrich Christoph Oetinger (1702- 1782) verfaßt haben. Die Studien zur Herkunft führen aber eher zum deutsch-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr.
Pfr. Mathias Rissi
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