26. Februar 2023 - Sonntag Judika   »Schaffe mir Recht, Gott «
Predigt in Greifensee        Pfr. Mathias Rissi

 

Und der Hohe Priester erhob sich, trat in die Mitte und fragte Jesus: Antwortest du nichts auf das, was diese gegen dich vorbringen?  Er aber schwieg und antwortete nichts. Da fragte ihn der Hohe Priester noch einmal, und er sagt zu ihm: Bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobten? Da sprach Jesus: Ich bin es, und ihr werdet den Menschensohn sitzen sehen zur Rechten der Macht und kommen mit den Wolken des Himmels.   Markus 14, 53-65

 

 

Liebe Gemeinde

 

Es gibt einen Platz, da war ich noch nicht und da möchte ich nie hin! Sie kennen es vielleicht von den Gerichtsshows, die nachmittäglich über den Bildschirm füllen: Vorwürfe, Tränen, Beschuldigungen, Geständnisse. Offenbar macht Zuschauen Spaß. – Aber es ist nicht echt, bloß Seifenoper.

Ich erinnere mich aber an den Film von Richard Dindo »Grüningers Fall«.[1] Er hat vor einigen Jahren filmisch den Prozeß gegen den Kommandanten der Sankt Galler Kantonspolizei, Paul Grüniger neu aufgerollt.

Grüniger hatte sich bekanntlich aus Erbarmen über die eidgenössischen Vorschriften hinweggesetzt. 1938 hatte er etwas 3600 illegal eingereisten jüdischen Flüchtlingen geholfen und deren Aufenthalt eigenmächtig legalisiert. Dadurch hatte er sie vor der Zurückweisung ins deutsche Reich und den sichern Tod im KZ bewahrt. Als das bekannt wurde, setzte man ihn ab und machte ihm gnadenlos den Prozeß: Er wurde entlassen, entehrt! Später bekam er nicht einmal eine Rente!

Fast 60 Jahre später nun filmt Richard Dindo den Gerichtssaal in St. Gallen. Erst zeigt er den Saal in ganzer Breite, dann verengt sich die Sicht, ins Blickfeld kommt ein Stuhl. Schließlich füllt er das ganze Bild aus: Der Platz des Angeklagten. - Nie möchte ich dort sitzen. Ganz allein. Ausgeliefert der geballten Macht eines voreingenommenen Gerichtes.

Genau so stelle ich mir das Gericht im Hause des Hohenpriesters vor. Nie möchte ich dort sitzen. Aber er sitzt dort: Jesus ganz allein.

 

Es kann sein, daß allein schon dies einem Menschen in einer ausweglosen Einsamkeit helfen kann: zu wissen, daß unser Herr dies auch aushalten mußte; zu wissen, daß Jesus darum weiß, wie es einem geplagten Menschen gehen kann; daß ich auf diesem Weg einen habe, der mir vorangeht und meine Not mitträgt. Und vor Gott trägt.

 

Heute denken wir gewiß an die Menschen in Kriegsnot, ohne Obdach, verletzt oder auf der Flucht, in Angst. An jene, die von Schmerzen gequält werden. An jene, die allein sind, trotz all der Menschen um sie herum, weil ihre Not sie so einsam macht. – Sie alle dürfen Trost fassen in dem einen, Jesus Christus, der diese Einsamkeit kennt. – Ich kann es mir nicht anders vorstellen als, daß damals für Paul Grüninger diese Gewißheit ein verborgener, rätselhafter Trost war.

 

Da spulen sie also den ganzen Prozeß ab. In ihrem Eifer machen sie alles falsch. Die Verfahrensfehler hätten den Prozeß in einer Revision platzen lassen:

1. hätte nach jüdischem Recht ein Prozeß tagsüber stattfinden müssen

2. hätten sie die Öffentlichkeit zulassen müssen

3. bauen sie auf wider­sprüchliche Zeugen

4. müßte zwischen Anklage und Urteil ein ganzer Tag vergehen und

5. kann der Vorsitzende nicht zugleich der Ankläger sein.
Wir merken auf Schritt und Tritt: hier mußte es schnell gehen und das Urteil war zum vornherein gefaßt.

 

Aber Jesus sitzt da und schweigt!

Mußte ihnen nicht jene Jesajastelle vom Gottesknecht in den Sinn kommen?

Rund 600 Jahre vorher hatte Jesaja gesagt: Er wurde mißhandelt und beugte sich und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, wie ein Schaf, das vor seinen Scherern verstummt!  [2]

Wie stark er doch ist, in diesem Schweigen! Das Schweigen redet – merken sie es nicht? Wie wenn er ihnen dazu helfen möchte, zur Besinnung zu kommen. Er wehrt sich nicht. Warum?

 

Es ist ein starkes Stück Vertrauen, das uns hier abgerungen wird: Sollte tatsächlich Gott hier am Werk sein in diesem Gedemütigten, Gequälten? –  Jesus hat sich so verstanden. Auch die frühe Christenheit hat ihn im leidenden Gottesknecht sofort und unverwechselbar erkannt, schon lange bevor alles im Neuen Testament festgehalten war. - Das ist kaum zu fassen, denn viele erwarten,  Gott sei mit dem, der Erfolg und Glück habe. «Hätte er sich auf Gottes Seite gestellt, dann wäre ihm das erspart geblieben.» Oder wir ertappen uns beim Gedanken: «Wie kann Gott mich so schmerzhaft plagen, wo ich doch eigentlich anständig bin»  –  die Vernunft meint zu wissen, wie sich Gott uns gegenüber zu verhalten habe.

 

Er hat durchgehalten. Er läßt sich auch heute durch den Schmutz ziehen und verlachen in blasphemischen Theaterstücken oder Filmen. Niemand schreit nach Rache, wie bei den dummen Karikaturen. Da hat Jesus doch schon einiges erreicht bei uns. Es war nicht immer so. Unser Christentum hat oft genug eine unchristliche Arroganz ausgelebt. Aber wir heute wollen uns an diesen Jesus halten, der sich nicht wehrt vor Gericht. – Gewiß, es tut mir weh, wenn Menschen sich heute über ihn lustig machen, wenn sie Glaubende herabmindern. Aber das haben wir gelernt: Wer nur den lieben Gott läßt walten. Die Schwachheit ist Gottes Stärke! Denn in der Schwachheit ist er ganz bei uns. Da holt er uns ein und holt uns ab!

 

Aber die Menschen sind noch nicht soweit. Sie beharren auf ihrem Standpunkt. Jesus läßt sich jedoch nicht darauf ein. Es ist kaum zum Aushalten! Er wehrt sich nicht! Er schweigt.

Schließlich fragt der Hohepriester: Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten? –  Da antwortet Jesus unerschrocken und sagt, was man sonst von ihm nie hören konnte: Ich bin's. Und ihr werdet den Sohn des Menschen sitzen sehen zur Rechten der Macht.

Es ist die einzige Stelle überhaupt, wo Jesus Gottessohnschaft beansprucht: nicht bei einem Wunder, nicht bei einer gelungenen Rede, nicht im Streit mit den Pharisäern, wo diese kleinlaut abziehen – nein, ganz unten als machtloser Angeklagter! So klar gibt es nur Markus weiter:

Erst hier auf dem Tiefpunkt der Ohnmacht – da soll unmißverständlich aufleuchten, daß Gott das Recht behält, daß Kreuz und Herrlichkeit nicht voneinander getrennt gesehen werden dürfen. Aber erst hier! Das Recht und die Herrlichkeit gibt es nicht billiger!

 

1995, 23 Jahre nach seinem Tod, wurde Paul Grüniger von der St. Galler Regierung rehabilitiert, endlich!
Gott hat Christus rehabilitiert an Ostern

 

Zu Beginn habe ich gesagt, daß ich nie auf jenem Stuhl sitzen möchte. Anders als Jesus wissen wir nämlich genau, daß man bei uns keine falschen Zeugen aufbieten müßte. Da ist einmal das Defizit an Liebe, das uns ganz bewußt ist und uns drückt. Und wir ahnen, daß wir verstrickt sind in Schuld, die wir nicht einmal wahrnehmen. Wie blaß oder aufgeblasen nimmt sich da der Ausspruch von Petrus aus: »Und wenn alle Anstoß an dir nehmen, so doch ich nicht!« [3]

Wir Menschen machen es Gott immer wieder so schwer, sich uns zu offenbaren. Eine wirkliche Begegnung mit Gott gibt es nur, wo wir unsere naive Selbstsicherheit aufgeben.

Da kann Christus wirken: da, wo wir in unserer Bedürftigkeit zu ihm kommen. So ist dieser erschütternde Prozeßbericht eine einzige große Einladung  uns in Christus zu entdecken: Und es so von Gott anzunehmen, wie Paulus es im Herrnwort erfuhr: Laß dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. [4] 

 

Amen


 

[1] Der eindrückliche Film kann im Internet kostenlos angeschaut werden: https://www.srf.ch/kultur/film-serien/grueningers-fall-gab-dem-totgeschwiegenen-das-wort

[2]  Jesaja 53, 7

[3]  Markus 14,29

[4] 2. Kor 12,9

 

Pfr. Mathias Rissi

 

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