Ufwindgottesdienst im Rahmen der Aktion Brot-für-alle «Verstehen verändert»

15. März 2003  -  Predigt: Pfr. Mathias Rissi

 

Matthäus 15 21 Und Jesus ging weg von dort und zog sich zurück in die Gegend von Tyrus und Sidon. 22 Und siehe, eine kanaanäische Frau kam aus diesem Gebiet und schrie: Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Meine Tochter wird von einem bösen Geist übel geplagt. 23 Und er antwortete ihr kein Wort. Da traten seine Jünger zu ihm, baten ihn und sprachen: Laß sie doch gehen, denn sie schreit uns nach. 24 Er antwortete aber und sprach: Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. 25 Sie aber kam und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, hilf mir! 26 Aber er antwortete und sprach: Es ist nicht recht, daß man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde. 27 Sie sprach: Ja, Herr; aber doch fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen. 28 Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst! Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde.

 

Liebe Ufwind – Gemeinde

 

Verstehen verändert! – so heißt das Motto der Brot-für-alle Aktion 2003

Als Richi euch vorhin japanisch angesprochen hat, «verstanden alle nur Bahnhof» - aber dann mit dem Handzeichen kam das Aha-Erlebnis. Verstehen hat verändert!

Aber: verändert Verstehen?

Wenn unsere Kinder Sackgelderhöhung wünschen, dann kann ich das durchaus verstehen, aber ändern tut sich nichts, wenn ich nicht will. Oder: Paare wissen nach Jahren, wie ihre Spannungen sich aufbauen und entladen. Sie verstehen die Mechanismen und ändern tut sich leider oft genug dennoch nichts.

Dazu paßt herrlich eine Spruchweisheit von Maria Ebner-Eschenbach, welche ich in der Bfa-Agenda gefunden habe: «Jeder Mensch hat ein Brett vor dem Kopf – es kommt nur auf die Entfernung an». Ist es direkt davor oder etwas weiter weg? Es muß entfernt werden!

Dazu braucht's Verstehen. Man erzählt von den Ostfriesen: Warum haben die Ostfriesen so hohe flachen Stirnen und so große Ohren? – Weil sie mit der Hand die Ohren aufstellen und fragen: «Was hast du gemeint?» und dann nach der Antwort mit der flachen Hand auf die Stirn schlagen: «Aha sooo!» - Spaß beiseite: mich dünkt, unter uns müßten auch etliche - oder wohl alle - relativ flache Stirnen und großen Ohren haben. Das Phänomen des Aha-Erlebnisses ist nicht auf die Ostfriesen beschränkt.

 

Andrerseits wissen wir in der Regel ziemlich genau, was gut und richtig wäre und tun es dann doch nicht. So das Zitat von Rudolf Augstein: «Die Zahl derer, die durch zu viele Informationen nicht mehr informiert sind, wächst.» Je mehr wir verstehen, desto mehr lähmt das: Wir wissen um die Kostbarkeit der Ressourcen – aber wir verschwenden sie wie keine Generation vor uns. Wir wissen um die Möglichkeit des fairen Handels und des nachhaltigen Produzierens – und schauen doch immer wieder auf das Preisschild.

Wir wissen, daß es in einem Krieg nur Verlierer gibt, und schauen machtlos zu, wie in unserer Welt immer noch auf dieses Muster der Konfliktlösung gesetzt wird.

Martin Luther King hat in einer Predigt ein starkes Bild gebraucht: Wir seien alle miteinander verbunden, wie die Fäden in einem Netz. Wenn du an einem Faden ziehst, dann bewegt das auch andere Fäden und das ganze Netz bewegt sich mit. Wenn ich einen günstigen Kaffee trinke, dann bewegen sich viele Fäden mit bis hin zu den ausgebeuteten Kaffeebauern und Pflückerinnen.

Das Bild vom Netz gilt heute global! Dank der Medien kommen die Nachrichten jederzeit aus der entlegensten Gegend ungefragt in unsere Stube. – Und wir kommen uns hoffnungslos überfordert vor und gelähmt.

 

Schauen wir hinein in die Geschichte von Jesus und der Syrophönizierin.

Da könnte man geradezu sagen: Nichtverstehen verändert. Die Mißverständnisse sind nämlich hilfreich und bringen Bewegung.

Im Ganzen der Geschichte sieht es aus, wie wenn Jesus sich verändert hätte. Es ist aber auch eine Geschichte, die davon erzählt, wie die Menschen ihre Sicht über Gott revidiert haben: Daß sein Heil auch für die Fremde und ihre kranke Tochter gilt. Also lernen die Menschen verstehen, daß Gottes Arme weiter geöffnet sind, als es die egoistischen, nationalistischen und rassistischen Ängstlichkeiten zulassen.

 

Die Geschichte spielt im Gebiet von Sidon bei den Syrophöniziern. Dorthin ins Ausland hat Jesus sich zurückgezogen. Dann aber kommt die Frau. Sie schreit unverschämt und meint, dieser jüdische Heiler müsse ihr und ihrer Tochter helfen.

Ich bin überzeugt: Jesus hat sie sehr gut verstanden, aber er will nicht helfen. Er grenzt seine Mission ein, sonst nimmt das Ganze uferlose Dimensionen an. Seine heilsgeschichtliche Aufgabe ist es, zu den verlorenen Kindern Israels zu kommen. Darum sagt er Nein!

Die Frau versteht jetzt sein Nein – und korrigiert: Auch wenn ich nicht in den bevorzugten Kreis gehöre und deine Aufmerksamkeit nicht verdiene, selbst den Hündchen unter dem Tisch läßt man die «Brösmeli».

Martin Luther hat der Frau treffend in den Mund gelegt: «Ich kann jetzt nicht disputieren, ob ich fromm bin oder bös, würdig oder unwürdig. Ich kann jetzt nicht abwarten. Meine Tochter wird vom Teufel übel geplagt, da muß ich Rat und Hilfe dazu haben.»

Nun geht es wie ein Ruck durch Jesus. Mit den Augen der göttlichen Liebe sieht er in dieser Frau, die doch keine Tochter Israels ist, eine Tochter seines Vaters. Er «versteht» und handelt und schenkt Heilung und Heil.

Es hat sich gelohnt, hartnäckig zu bohren, bis Jesus «versteht».

 

Wir alle wissen allerdings auch: «Verstehen verändert» kann zu einem traurigen Krampf werden. Menschen können dabei ihre Hoffnung und Lebensenergie verlieren, wenn sie die Größe der Aufgabe und die Bescheidenheit der Resultate miteinander vergleichen.

Das Evangelium weiß davon. Darum wollen wir diesen letzten Punkt, wo Jesus Frau versteht und mit neuen Augen sieht, besonders anschauen.

 

Da erzählt ein köstlicher Witz von einem streitenden Ehepaar. Kaum getraut streiten sie tagein tagaus miteinander: über die Möbel, das Geschirr, Kinder ja – oder nein, und als die Kinder da sind über die Erziehung, über die Arbeit, die Gestaltung von Freizeit und Ferien, die Musik, den Geschmack… So gehen die Jahrzehnte durch. Man glaubt es kaum, die beiden feiern die Goldene Hochzeit. «Was schenken wir bloß unsern Eltern?», fragen die Kinder, «sie werden sich gewiß nur streiten deswegen». Am Ende kommen sie auf die Idee, eine Ehe-Therapie zu schenken. Erwartungsgemäß streiten die goldenen Eheleute gleich, ob sie hingehen sollen oder nicht. So sitzen sie dann doch beim Therapeuten. Der kommt gar nicht zu Wort, weil die beiden streitbaren Eheleute schon wieder die Klingen kreuzen. Nach 50 Minuten steht der Therapeut auf, geht zu der Frau hin umarmt sie und gibt ihr einen dicken Kuß mitten auf den Mund. Zum Mann sagt er: «Das braucht ihre Frau dreimal pro Woche». - Der Mann: «In Ordnung: Montag, Mittwoch und Freitag bringe ich sie bei Ihnen vorbei.»

Schon wieder nicht verstanden und daneben - Sie braucht doch nicht den Therapeuten, sondern liebende Zuwendung. Denn: Wenn etwas die Menschen verändern kann, dann sind das nicht Ermahnungen und Kritisiererei, sondern dann ist das die Liebe. Die Liebe verändert.

 

In dem Moment, wo Jesus in der ausländischen Frau nicht die lästige Störerin sieht, sondern die Tochter Gottes, geschieht das Wunder.

Genau darum ist Jesus gekommen, nicht um die Menschen zu ermahnen und zu beurteilen, oder um ihnen ein schlechtes Gewissen zu machen. Er schenkt Liebe. Und wenn etwas das Leben und die Welt verändert, dann ist es die Liebe. Nicht zufällig proklamieren die zentralsten Sätze der Bibel die Liebe: Johannesevangelium 3,16 Sosehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Oder: 1. Johannesbrief 4,16b: Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.

Verstehen verändert? Die Liebe verändert! Da wo ich im andern die Schwester und den Bruder sehe! So wie die Liebe Jesu mich verändert!

 

Laßt mich zum Schluß noch in der Kirchengeschichte kramen: Unsere reformierten Vorfahren haben um dieses Geheimnis gewußt. Sie haben nämlich das Gebet, die Sakramente und das gerechte Leben (die Gebote) nicht zu den frommen Pflichten gezählt, mit welchen die Menschen gottgefällig leben könnten. Sie gingen einen andern Weg:

Typisch reformiert ist es, daß die Zehn Gebote nicht in erster Linie dazu dienen, das Zusammenleben zu regeln. Auch nicht dazu, den Menschen immer wieder ein schlechtes Gewissen zu machen, weil wir die Gebote in ihrem tiefen Sinn (siehe Bergpredigt Matthäus 5,21f oder 5, 27f ) nicht halten können.

Im Heidelberger Katechismus, der bedeutenden reformierten Bekenntnisschrift, stehen diese Anliegen im dritten Teil.

Der erste Teil handelt «Von des Menschen Elend» in seiner Verlorenheit vor Gott, der zweite Teil «Von des Menschen Erlösung» durch Jesus Christus.

Der dritte Teil heißt: «Von des Menschen Dankbarkeit». Aus dem Glück der Liebe Gottes zu uns wächst unsere Antwort: Wenn du von der Liebe Christi getrieben und gelenkt bist, dann wird es dir eine Freude sein, sein Reich, seine Gerechtigkeit zu suchen. Eben aus Dankbarkeit.

 

Herr, Jesus Christus

Wir verstehen und wissen so viel und sind doch immer wieder ganz arm dran mit unserem Wissen.

Wir wissen nicht, was tun.

Brauchen deine Vergebung und deine Liebe, damit wir überhaupt leben können.

Danke, Du schenkst uns dein Ja und trägst unsere Trägheit und vergibst unsere Schuld.

Wir bitten dich: Schenk uns die Liebe, die verändert.

Senke sie uns tief ins Herz.

Wir glauben an das Geheimnis, daß deine Liebe uns verändert.

Schenk uns die Liebe, welche den Nahen und Fernen, der mit uns verbunden ist, sieht und ernst nimmt.

Schenk uns deinen Geist, der uns frei macht,
der uns mit Hoffnung füllt,
der uns für eine Fairneß einstehen läßt, die sich an deiner Gerechtigkeit und Gnade mißt.

Fülle uns mit der Hoffnung auf dein Reich,

daß sie uns bewegt, mit unserem Leben und unserer Kraft hier dafür einzustehen.

Amen

 

Pfr. Mathias Rissi

 

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