Karfreitag, 18. April 2003,  Meilen ZH   -  Predigt: Pfr. Mathias Rissi

Die Kreuzigung nach Matthäus (Matth 27,27-44) Matthäus 27,27-44  Mt 27

Liebe Gemeinde

Wir denken gerne, es sei umgekehrt: die Menschen müßten ohne Gott zurechtkommen. Gott sei schon für uns, aber weit weg, kaum je zu spüren! Wir fragen: Wo bleibt Gott? Vielleicht ist das Bibelwort doch näher bei unserer Realität: Jesus ist nämlich da, aber wo sind die Jünger?
Die ganze Welt dreht sich um Jesus - aber wie! Mit Spott und Hohn deckt sie ihn ein, mit lautem Geschrei. Jesus ist in der Mitte des Geschehens, angenagelt, kann sich nicht rühren, machtlos, sterbend. - Ein bedrückendes Bild der Ohnmacht Gottes. Matthäus erzählt uns von anscheinend sinnlosem Leiden. Da ist kein Gott sichtbar, nur Kreuz und Spott: Kein Wunder, kein happy end, keine Erlösung!

Das Geschehen vom Karfreitag ist die große Herausforderung für uns. Christus braucht nicht unsere Sentimentalität und Mitleid, sondern daß wir uns selbst einmal mit seinen Augen sehen. Vielleicht braucht es Jesu Kreuz, bis unsere Schattenseiten einmal so hervortreten, daß wir sie nicht mehr verstecken können. Und vielleicht ist das schon der erste Schritt zur Heilung, daß allerlei, was in uns schlummert, hervorgelockt wird.

Da sind zuerst die Soldaten: Sie sind abkommandiert. Sie lassen ihre Wut an diesem Gefangenen aus. Der kann sich ja nicht wehren. Oft genug haben sie selber gelitten, schikaniert von den Vorgesetzten. Jetzt kehren sie den Spieß um: das purpurrote Spottgewand, die Dornenkrone, das «Szepter»-Rohr zeugen davon. Wer weiß, wieviel in uns selber steckt... Ist es nicht eigenartig: wie oft geben wir, was wir einstecken, wieder an andere weiter?

Das Zweite ist der Brauch: Sie reichen normalerweise den Todeskandidaten Wein (mit Myrrhe) zur Betäubung und Linderung - aber am Karfreitag hat ihn einer mit Galle so bitter gemacht, daß der Gefangene ihn nicht mehr trinken kann. - Wieviel christliche Barmherzigkeit ist «vergällt» oder kommt «von oben herab»? Eben, wenn jemand nicht selbstverständlich schenken kann, sondern sich innerlich überwinden muß, dem andern etwas zuliebe zu tun - dann wird Barmherzigkeitstrank mit Galle vermischt. Der andere mag ihn nicht annehmen.

Ein Drittes: Die Soldaten waren schon bei mancher Hinrichtung dabei. Sie lagern im Gras, halten Wache, warten – und beginnen um die Kleider zu spielen, die vom Verurteilten übrig bleiben. – Schweizer würden wohl jassen. Da sitzt man am Fernseher. Die schrecklichsten Dinge flimmern über den Bildschirm. Dazu werden Erdnüßchen geknabbert. Natürlich sind wir abgestumpft, sonst hält man das ja gar nicht aus. Aber welch ein Bild geben die Soldaten da ab!

Das Vierte ist die Inschrift: Jesus, König der Juden. Sie ist ein ausgezeichnetes christliches Bekenntnis: Jesus, der Christus (d.i. der Gesalbte, der König).
Auch wir sind beschriftet: Im Telefonbuch steht die Evangelisch-reformierte Kirchgemeinde. Das Taufbüchlein beschreibt uns als Christen und auf der Einwohnerkontrolle gibt es den Eintrag der Konfession. Das heißt Bekenntnis. Wir sind «bekannte» Christen.
Natürlich ist Jesus der Christus. Tatsache ist aber: Damals hat man den König nicht König sein lassen. Er durfte nicht sagen, was er, was Gott, von uns möchte. Mit Erfolg haben sie ihn daran gehindert.

Etwas anderes noch, als mit Soldaten, ist es mit denen, die vorbeigehen und spotten. Sie haben gemerkt: Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen.
Sie haben etwas vom Geheimnis Jesu gespürt: Andern hat er geholfen. Jetzt müßten sie nur noch einen winzigen Schritt tun und verstehen, daß er sich selbst nicht helfen will, gerade weil er auch jetzt immer nur an diese andern denkt, denen er helfen möchte.
Denken wir wieder an uns selbst: Ja, wir möchten Jesus schon annehmen als Helfer und rufen ihn entsprechend an. Aber einen Jesus am Kreuz, einen der leidet, ohne daß ein Wunder geschieht, wollen wir den wirklich? Das würde ja heißen, daß wir manchmal auch dort sein müssen, wo der Meister gewesen ist; und durch Stunden der Verzweiflung und der Schmerzen hindurchgehen. Wer aber dazu nicht bereit ist, der kann nie ein Mensch werden, der andere verstehen kann.
Die Hohepriester haben vielleicht noch mehr verstanden: Steig herunter vom Kreuz, und wir glauben dir. Ja, die wichtigste Frage im Leben ist, ob wir glauben können. - Sie aber wollen zuerst Beweise, dann könnten sie schon glauben. Das ist tiefster Irrtum: Gott könnte es tatsächlich so machen und seine Macht beweisen, aber wir würden es im Grunde doch immer noch irgendwie zurechtlegen, ohne mit Gott rechnen zu müssen.
Glauben geht tiefer. Glauben heißt: sich Gott auftun! sich ihm geben, ohne jedesmal einen Beweis zu haben. Es gibt sicher Zeichen seiner Liebe und Macht, aber nie Beweise. Genauso ist es auch zwischen den Menschen: Auch da muß ich mich dem andern hingeben, gerade auch dort, wo ich den andern nicht wirklich verstehe. Und ich muß dem Partner zutrauen, daß er es gut meint. Bis wir dann einmal verstehen, warum er so und nicht anders gehandelt hat. Wenn ich jedesmal einen Beweis verlangen wollte, stünde der Partner ja immer unter Zwang. Aber Liebe und Zwang vertragen sich nicht.
Das haben die Hohenpriester nicht verstanden, und auch wir sooft nicht: daß der Glaube vielleicht dort am stärksten wachsen will, wo wir nicht verstehen, was Gott mit uns vorhat.

Es hat den Karfreitag gebraucht in Jerusalem und es hat den Karfreitag gebraucht, um uns Schweizer heute lebendig zu machen und in Bewegung zu bringen, uns selber zu fragen: Warum sind wir so abgestumpft, warum fordern wir immer Beweise, warum kennzeichnet uns sooft Zurückhaltung statt Hingabe. Das ist das Eine.
Und das Zweite, weshalb es ihn gebraucht hat: Am Karfreitag ist sichtbar geworden: Gott ist bei uns, und zwar nicht nur auf unseren Glanzpunkten, sondern gerade in der Tiefe. Da ist dieser Jesus, der ganz und gar Gott traut. Er sieht jetzt noch nichts, er weiß noch nicht, daß Millionen von Menschen davon leben werden, was er in diesen Karfreitagsstunden durchleidet. Aber er hält in seinem verzweifelten Leiden an Gott fest und läßt ihn nicht los. Seit das geschehen ist, wissen wir: Was auch kommt - Christus ist schon dagewesen und hat schon vor uns Gott festgehalten, wo man noch gar nichts von einer Lösung sieht. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir (Psalm 23,4)
Mitten in unserer Geschichte ist einer, der ein wenig anders ist: Simon von Kyrene, aus Afrika - ein Fremder, ein Schwarzer. Er wird gezwungen, das Kreuz zu tragen. Er hat es nicht freiwillig getan! Da unterscheidet er sich nicht vom Rest! Vielleicht ist er zum Spotten auch nur zu erschöpft. So kann es auch uns gehen. Nicht daß wir uns freiwillig melden, aber vielleicht zwingt uns Gott, ein Kreuz auf uns zu nehmen und auch einwenig dort zu sein, wo Christus am Karfreitag war. Ein klein wenig hinter ihm herzugehen, so wie Jesus selbst gesagt hat: Da wo ich bin, wird auch mein Diener sein. Joh. 12,26

Welche Verheißung ist auf jener halben Stunde gelegen. Der Evangelist Markus berichtet sogar noch von den beiden Söhnen des Simon. Das hat nur einen Sinn, wenn die Leser des Evangeliums sie noch kennen. Wahrscheinlich sind sie Christen geworden, weil ihr Vater an jenem Tag etwas von Christus gesehen hat und nicht mehr von ihm los kam.

Ich weiß von einem Mann, der in einem südafrikanischen Gefängnis fast zu Tode gefoltert worden ist. Er hat später erklärt, allein dies habe ihn durchgehalten, daß er an Jesus denken konnte, der den gleichen Weg zu gehen hatte.

Das ist gewiß nicht alles, was über Jesu Passion zu sagen ist. Aber ich meine, daß wo ein Mensch leidet, und nur das Leiden Christi ihn durchhalten läßt, da kann man auch sagen, daß Jesus für diesen Menschen gelitten hat und gestorben ist. Und daß er ihn durch eine Zeit trägt, die sonst völlig verzweifelt gewesen wäre.

Um das andere zu haben, feiern wir heute das Abendmahl. Dort spricht Gott uns Vergebung zu für unsere Distanziertheit. Dort sagt er uns, daß Jesus an unserer Statt den Weg ans Kreuz gegangen ist. Und dort kräftigt und stärkt uns Christus zu einem Leben in der Nachfolge. Wir blicken vorwärts auf Ostern, wir sehen, was man am Karfreitag noch nicht sehen konnte: Der auferstandene Gekreuzigte ist nicht nur im Leiden mit uns, sondern gibt uns Teil an seinem Leben.
AMEN

Pfr. Mathias Rissi

 

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