16. November 2002      Ufwindpredigt      Pfarrerin Sabine Stückelberger

 

In der Demut achte einer den anderen höher als sich selbst, jeder nicht nur mit dem Blick auf das Seine, sondern jeder auch mit dem Blick auf das, was der andern ist.

Diese Gesinnung heget in euch, die auch in Christus Jesus war, der, als er in Gottes Gestalt war, es nicht für einen Raub hielt, wie Gott zu sein….Phil 2, 3b-6

 

Liebe Gemeinde

 

Grenzen durchkreuzen tagtäglich unser Leben. Das gilt schon für ein Kind im Mutterleib, wenn es mit Händen und Füssen seinen ersten Lebensraum austestet. Und dann erst recht bei der Geburt, wenn es in eine neue Welt kommt. In eine fremde Welt, in der sich alles so ganz anders anfühlt und wo die Sprache erst gelernt werden muss.

 

Im Herbst werden wir besonders daran erinnert, dass auch unsere Lebenszeit begrenzt ist. Überall riecht es nach Abschied: Abschied vom Sommer und der Wärme, von langen Tagen voller Licht und von leuchtenden Farben. So wie Blätter und Blumen verwelken und zu Boden fallen, so verwelkt jede Stunde und jeder Tag und kommt nicht mehr zurück.

 

Wie oft sind wir begrenzt in unseren Möglichkeiten: unsere Lebenskraft ist nicht unerschöpflich, wir brauchen Ruhe, Erholung und Schlaf. Unser Wille ist nicht allmächtig und stösst an Grenzen. Reden wir auch die gleiche Sprache, so verstehen und begreifen wir uns nicht immer. Und nicht selten fängt der Grenzschutz schon beim eigenen Herzen an.

 

Grenzen durchziehen tagtäglich unser Leben: sie halten uns auf und fordern ihren Zoll. Die einen beschützen uns und andere locken uns hinüber in eine neue Welt und unbekannten Ufern entgegen.

 

In den Herbstferien hatten mein Mann und ich das Glück, ein Grenzgebiet von zwei Kontinenten und zwei Meeren kennen zu lernen. Wir sind auf unserer Reise durch Andalusien bis zur südlichsten Spitze von Spanien gelangt, bis nach Tarifa. Mit den Füssen auf europäischem Boden sahen wir hinüber bis nach Afrika, und zwar zum Greifen nahe. Und dazwischen trafen das Mittelmeer und der Atlantik in der Strasse von Gibraltar zusammen.

Doch nicht nur das hat uns ins Staunen versetzt. Kurz darauf erfuhren wir, dass in diesem Grenzgebiet besonders viele Wale und Delphine zuhause sind. Und das, obwohl ihr Lebensraum übers Jahr von rund 80’000 Schiffen gestört und beeinträchtigt wird. Doch weil dort zwei Meere aufeinanderprallen, welche bezüglich Niveau, Strömung und Salzkonzentration verschieden sind, finden die Meeressäuger sehr viel Nahrung. Denn da der Atlantik höher und schwerer ist, stürzt er wie ein unsichtbarer Wasserfall in die Tiefe des Mittelmeers. Durch diese dynamische Bewegung und Strömung wird Plankton aufgewirbelt, der am Anfang der Nahrungskette steht.

So wurde die Strasse von Gibraltar als Grenzgebiet zu einem üppigen Lebensraum für Tier und Menschen.

 

All diese Grenzerfahrungen spiegeln sich auch in der Bibel. Aber sie lockt und ruft uns vor allem ins Grenzgebiet zwischen Himmel und Erde. Dabei wird sie nicht müde zu bezeugen, dass Gott seinen Geschöpfen begegnet und sie begleitet. Sie öffnet uns die Augen und Herzen dafür, dass wir zu Grenzgängern zwischen Himmel und Erde berufen sind. Denn auch das ist ein Lebensraum, der für uns Nahrung und Stärkung bereithält, für Leib und Seele.

 

Dass Gott auch die Himmelsgrenze überschritten hat, um sich mit uns zu versöhnen und uns den Himmel für immer aufzutun – an diese befreiende Grenzüberschreitung erinnern uns die Verse des Paulus im Philipperbrief.

In der Demut achte einer den anderen höher als sich selbst, jeder nicht nur mit dem Blick auf das Seine, sondern jeder auch mit dem Blick auf das, was der andern ist.

Diese liebevolle Demut, die Paulus uns ans Herz legt, beschreibt zuallererst die Hingabe, mit der Gott seinen Geschöpfen begegnet. Denn Paulus fährt ja fort:

Diese Gesinnung heget in euch, die auch in Christus Jesus war, der, als er in Gottes Gestalt war, es nicht für einen Raub hielt, wie Gott zu sein….

Das meint mit anderen Worten, dass unser Gott nicht an seiner göttlichen Macht und Herrlichkeit festhält wie ein Räuber seine Beute. Wenn das so wäre, würde Gott wie ein Despot die Welt regieren und uns mit seinen Machtgelüsten terrorisieren. Nicht liebevolle Demut, sondern Demütigung würden wir zu spüren bekommen. Wie Marionetten müssten wir tanzen ohne Gnade.

Aber für den Gott, den uns die Bibel bezeugt, ist sein Gottsein kein gefundenes Fressen, das er mit niemandem teilen will – im Gegenteil. Er gibt preis, was er besitzt, er macht sich freiwillig arm und klein für uns, weil er uns in liebevoller Demut höher achtet als sich selbst; weil ihm am Herzen liegt, was uns bewegt. Er hat keine Angst, sein Gesicht zu verlieren und sich uns auszuliefern, um uns seine Liebe zu nahe zu bringen.

 

So wie sich der Atlantik in die Tiefe und Abgründigkeit des Mittelmeeres fallen lässt und neues Leben möglich wird, so lässt sich Gott in die Abgründe unseres Lebens fallen und beschenkt uns mit neuer Kraft und Lebensfülle.

 

Doch wie verhält es sich eigentlich mit uns Menschen? Warum legt uns Paulus die liebevolle Demut gegenüber unseren Nächsten so ans Herz?

Paulus weiss um die fatale menschliche Schwäche, alles andere als schwach und begrenzt sein zu wollen. Wir sind immer wieder versucht, unser abgründiges irdisches Niveau höher zu legen und den Himmel selbst zu verdienen. Wären wir nicht lieber der mächtige Atlantik als das niedrigere, überschaubare Mittelmeer?

Ja, wir halten es doch allzu gern für ein gefundenes Fressen, wie Gott zu sein: perfekt und ohne Makel, im Aussehen und im Beruf; unsterblich im Erfolg; allmächtig in der Selbstverwirklichung; allgegenwärtig per Handy und Internet  - und in allem sich selbst genug.

Da liegt uns der Blick aufs eigene Leben und Glück eben viel näher, als der Blick auf das, was die andern umtreibt.

Doch noch einmal: für Gott ist es gerade kein gefundenes Fressen wie Gott zu sein. Er verwirklicht sich nicht selbst ohne Rücksicht auf Verluste. Er verwirklicht sich vielmehr in der Liebe. Und sie ist der einzige Schatz in der Welt, der sich vermehrt, wenn man ihn verschwendet.

 

In der Demut achte einer den anderen höher als sich selbst…

Paulus ermutigt und bittet uns darum an Christi Statt. Er rechnet voll Vertrauen damit, dass uns diese Gesinnung nicht etwa schwächt und demütigt, sondern vielmehr bereichert, belebt und einander näher bringt  - so wie bei den zwei unterschiedlichen Meeren in der Strasse von Gibraltar. Amen

 

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