«Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht!»

Predigt im Reformationsgottesdienst am 6. November 2022 in der Kirche Greifensee

Pfr. Mathias Rissi 

 

Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; eine Kraft Gottes ist es zur Rettung für jeden, der glaubt, für die Juden zuerst und auch für die Griechen. Römer 1, 16

Liebe Gemeinde

Mit dem Schämen ist es so eine Sache. Wenn die Eltern vor Jahrzehnten mir sagten: ich soll mich schämen, dann wusste ich, daß ich etwas gemacht hatte daß ich nie wiederholen sollte. Im Laufe des Lebens merkt man dann, daß es Dinge gibt die man besser vor anderen verbirgt.
Tempi passati. - Wie viel anderes hat sich nämlich auch das verändert. Ich habe den Eindruck, daß sich diese Sache zum Teil ins Gegenteil verkehrt hat. Der Zeitgeist predigt Schamlosigkeit und Unverschämtheit statt Scham. Da war letzte Woche in der Presse zu lesen, das von 2007 bis 2021 die Verwaltungsräte und Manager der Großbank Credit Suisse Boni im Betrag von 1,6 Milliarden Franken bezogen haben. Gleichzeitig haben wir erfahren, daß diese Bank so schlecht dran ist, daß Saudis einspringen mußten, um sie zu retten. Doch die Verwaltungsräte und Manager schämen sich nicht für die bezogenen irrational hohen Bonibeträge. Geschweige denn denken Sie daran, etwas davon zurückzuzahlen, um den Schaden zu vermindern. Sie hüllen sich in vornehmes Schweigen.
Anderseits ist es Mode geworden, Sachen hinauszuposaunen, ob das nun Drogenkonsum oder die sexuelle Orientierung sei. Früher waren das heikle Themata, Heute ist »coming out« angesagt: Man steht dazu, man bekennt sich dazu.

Ums bekennen ging es auch vor 5 Jahrhunderten in die Reformation. Es war eine grundsätzliche Standortbestimmung. Bei all den kuriosen Wegen und Wendungen, welche die damalige Kirche beschritten hatte, war es notwendig, wieder zur Sache zu kommen. Darum finden wir in den Bekenntnisschriften so oft die Wendung: Wir glauben und bekennen...

Die Reformatoren haben das damals ganz gut erkannt! Weil sie wussten, wie rasch sich Fehler etablieren, formulierte ein holländischer Theologe schon hundert Jahre später: Ecclesia reformata semper reformanda: die (nach Gottes Wort) reformierte Kirche ist fortwährend zu reformieren. Das heißt, daß sie zu den Quellen zurückkehren und klar den Glauben bekennen soll. Nicht zurück zur Reformation, sondern zurück zum Ursprung: zu Jesus Christus, zum Evangelium und zur Heiligen Schrift. Denn wie zu Zeiten der Reformation gibt es zu allen Zeiten, auch heute, allerlei Ballast auszumisten aus den Köpfen und Herzen – in der markigen Sprache von Zwingli tönte das so: »Das usswendige Böggenwerk ist nüt dann ein beschiss.«[1] Und darum tut die radikale Besinnung auf den Ursprung not.

Das fordert uns heute heraus: Wozu steht denn die Kirche, die Kirche des Abendlandes? Was glaubt die reformierte Kirche, die reformierte Kirche Greifensee, was bekennen ihre Mitglieder, also du und ich?
Bekennen die Reformierten überhaupt etwas?

Gehen wir also zu den Quellen: Da lesen wir Paulus. Bloß, wieso sagt er: Ich schäme mich des Evangeliums nicht? Was gibt es denn da zu schämen? 
Wann und warum schämen wir uns denn? Es ist immer dasselbe: Ein Fehler wird sichtbar. Doch niemand zeigt gern seine Fehler und sein Unvermögen. Leider gibt es in der Kirchengeschichte und in der eigenen Biographie genug Fehler. Bei Paulus war es ja ebenso gewesen: Wer die heilende Gnade Christi predigt, muß gleichzeitig eingestehen, daß er sie braucht. Dennoch sagt Paulus ganz unverschämt: ich schäme mich des Evangeliums nicht! Er kann das, weil er weiss, dass er sich nicht wie der Baron von Münchhausen an seiner Perücke aus dem Schlamassel ziehen muss. Seine Rettung gründet auf dem Evangelium. Er will sagen: 'Um meinen Frieden zu finden, brauche ich Jesus Christus. Ich schäme mich nicht, ich stehe dazu. Und ich bin so heiter, weil ich Christus kenne und er mich! Ich schäme mich dessen nicht, zugeben zu müssen, daß ich ihn brauche!'

Was ist denn das Evangelium? Um das zu verstehen, schauen wir am besten uns selber an. Wir sind wie Paulus »Macher«. So sind wir von klein auf »programmiert«. Wir wollen uns alles selber verdienen. Im Mittelalter wollten die Menschen sogar den Himmel verdienen. Weil sie spürten, daß das schwierig werden könnte, waren sie sogar bereit für einen Sündenablaß Unsummen zu bezahlen: Für ein Papier, auf welchem stand, sie müßten nun ein paar Jahrzehnte weniger im Fegefeuer ausharren.
So einfach haben wir es heute nicht mehr. Wir haben den Himmel verloren. Wir leben in einer ganz einseitig diesseitigen Welt.
In der heutigen materialistisch diesseitigen Variante heißt das: Wir sind die zum Erfolg verdammten Macher. Wir müssen es hier und jetzt erreichen. Wir haben ewig jung, ewig dynamisch, ewig stark, ewig erfolgreich zu sein – und wehe, es mißlingt etwas!

Paulus hatte genauso gedacht. Wir erinnern uns daran, wie er von seinem früheren religiösen Perfektionismus spricht. Aber Christus hat ihm die Augen geöffnet: Daß Paulus immer ein Schuldner Gottes bleiben würde, wenn er nicht Gottes Gnade annehmen könnte. Paulus schämt sich nicht. Er geht zur Quelle und bekennt: Christus füllt meinen Mangel aus. Das ist die gute Nachricht, das Evangelium! Und das macht mich heil! Das heißt heute: Ich kann älter und schwächer werden, ich kann meinen Chef aushalten, ich kann meinem Partner vergeben, ich kann mein Kind ermutigen – mir fällt kein Stein aus der Krone, ich bin nie Verlierer: Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht!

Vor 500 Jahren haben Luther, Zwingli, Calvin, Bullinger und seither ungezählte Frauen und Männer die überwältigende Gnade Gottes kennengelernt und sich nicht geschämt, dazu zu stehen. Und wir sollten uns etwa schämen, uns nicht trauen, das heute transparent zu machen? Wenn wir es nicht sagen, ja, wer soll es dann sagen?

Gewiß, die Eltern geben es den Kindern weiter. Das war schon immer so. Aber, wie sagte mir einmal eine Schülerin: »Über Gott spreche ich mit meinen Eltern noch weniger, als über Sex.«
Ja, wir müssen offenbar heute ganz neu lernen unsere Scham überwinden, vom Glauben zu sprechen.
Eines ist heute allerdings ganz anders, als vor 500 Jahren. Früher war es in der Schweiz klar, daß man Christ war. Früher war es im Kanton Zürich anerkanntes Wissen, das Christus uns rettet, sozusagen vom Rat der Stadt für den ganzen Kanton Zürich verordnetes Credo.
[2]
Heute, wie alle Umfragen zeigen, ist das Gegenteil der Fall. Das Bekennen der Reformierten ist verstummt – und wenn wir schweigen, haben wir dazu beigetragen, daß das Evangelium vergessen geht. Nur ein Bruchteil der Menschen heute kennen das Evangelium – sie sind vielleicht irgendwie religiös oder spirituell.

Ich schäme mich des Evangeliums nicht! Unter Juden, wie unter Griechen. Es geht um nicht weniger, als um die Rettung! Auch unsere Macherwelt heute braucht es dringend, sonst geht sie in einem rücksichtlosen Kampf ums Überleben unter.
Und da ist auch die Begegnung der Kulturen. Es gibt keine Kultur auf der Welt, welche die Freiheit des Einzelnen kennt, so wie jene des Abendlandes. Haben wir vergessen, daß die Reformation dem Angst- und Höllenglauben des Mittelalters ein Ende gesetzt und den Boden mitbereitet hat für die Aufklärung. Ich es für überlebensnotwendig, daß gerade wir als Glieder der Kirche der Reformation die Glaubenswurzeln dieser Freiheit bekennen, nicht nur in der Tat, sondern auch im Wort!

Ich schäme mich des Evangeliums nicht! Wie können wir das zum Ausdruck bringen? Wir möchten ja vermeiden, daß es als aufgesetzte Frömmigkeit daherkommt. Dann müßten wir uns nämlich wirklich schämen für den fehlenden Respekt! Wie aber kann es authentisch, glaubwürdig geschehen?
Könnte es so gehen? Ich erwähne zwei Beispiele, ein individuelles und ein kollektives:
Wenn jemand Dir seine Sorgen eröffnet – dann wirst Du selbstverständlich Anteil nehmen, zuhören, praktische Hilfe anbieten, aber hoffentlich auch sagen: »ich denke an Dich im Gebet! (denn ich schäme mich des Evangeliums nicht!
Kürzlich hat mir ein Gemeindeglied erzählt: »Ich bekam Besuch, es ging mir da gerade nicht so gut. Bevor er ging, hat die Besucherin ein Gebet gesprochen. Das hat mir so gutgetan und geholfen!«
Liebe Schwestern und Brüder, ich bin der festen Überzeugung, daß wir falsch beraten sind, wenn wir unseren Glauben in vornehmer Zurückhaltung nicht bekennen, wenn wir nicht um unsere persönliche zeitgemäße Sprache des Glaubens ringen. Das ist womöglich noch schlimmer, als eine Formulierung die von andern belächelt wird.
Das andere Beispiel ist gewiß einfacher. Wir zeigen das »Ich schäme mich des Evangeliums nicht!«, indem wir als Gemeinde zusammenkommen. Dann stimmen wir mit Paulus in den Kanon der Zeugen ein: wir schämen uns unserer Lieder und Gebete nicht, noch unserer gebrochenen Biographien oder unserer unvollkommenen Gemeinden. Wir sind eben, weil wir Gott lieb sind, die Gemeinde der Heiligen! – Darum singen wir unsere schönen Lieder und beten gemeinsam. Nein, wir schämen uns des Evangeliums nicht!
Wie sollten wir uns denn schämen? Ist es die Angst, wegen des Glaubens ausgelacht zu werden? Oder ist es die Angst – zu Unrecht – in eine »fromme« Ecke gestellt zu werden? Na und? - was haben wir zu verlieren? Alle Welt ist heute religiös. Mich dünkt, sie sei religiöser denn je zuvor. Sie sucht auf den seltsamsten Holzwegen das Heil. Manchmal kann's gar nicht genug verrückt sein! Verglichen damit kommt mir das Evangelium vom auferstandenen Gekreuzigten schon fast logisch vor – Also: Sagen wir doch, daß wir die Liebe Christi nötig haben! Machen wir andern auch Mut zu einem Leben mit Gottvertrauen! Denn wir
schämen uns des Evangeliums nicht.

Was wird man einmal von uns Greifenseemer Christen sagen? »Sie haben gespendet für die Armen, Traditionen hochgehalten, schön gesungen, sie haben für den Frieden gebetet, sie haben gegendert – aber warum haben sie das eigentlich gemacht? ...«
Oder wird man sagen: »Da waren Menschen, eigentlich wie du und ich, mit Ecken, Kanten und Fehlern, ungeduldig, inkonsequent – aber sie haben unerschütterlich und unverschämt an Jesus Christus festgehalten – und wohl darum haben sie ein so erfrischendes Gemeindeleben gestaltet und haben dies und das gelingen sehen dürfen.«

Das Christliche an der Kirche ist nicht die Ethik oder die Nächstenliebe, die ist doch menschlich! Und das pflegen auch andere.[3]
Daß wir trotz aller berechtigten Kritik dieses Eine festhalten: ich schäme mich des Evangeliums nicht! Darum geht es. Aber eben heiter und unverkrampft, warum nicht mit Humor! Zum Schluß ein Zwinglizitat einst – er war ein fröhlicher Mensch und lachte gerne – als Grund gab er an: »Ich lache us gewissem, untrüglichem Vertrowen zu Gott und siner Waarheit!« – Ja, wer sich des Evangeliums nicht schämt, hat gut lachen!              
Amen

 

[1] Anlässlich der 2. Zürcher Disputation 1523

[2] Am 29. Januar 1523 in der 1. Zürcher Disputation. Hier hat Zwingli seine Lehren verteidigt und ihre biblische Begründung nachgewiesen – so eindeutig, daß der Rat der Stadt schon zur Mittagszeit beschloß, alle Prediger im Staate Zürich hätten wie Zwingli nur noch auf Grundlage der Heiligen Schrift zu predigen.

[3] Jesus in der Bergpredigt. Matthäus 5,43ff

 

Pfr. Mathias Rissi

 

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