Brasilien: auf der Flucht vor dem Elend                        

 

Unweit der Stadt Itapicurú im Nordosten Brasiliens ist entlang der Hauptstrasse gewissermassen über Nacht ein Hüttendorf entstanden. Schwarze Plastikplanen, die über eilig errichtete Holzgerüste gezogen wurden, schützen Frauen, Kinder und Männer vor Wind und Wetter. Ein paar Knaben sind dabei, die Wasserfassung, die in der letzten Nacht während eines schweren Gewitters zugeschüttet und verunreinigt wurde, instand zu stellen. Und im Plastikverschlag am Dorfende – einer Art Gemeinschaftsküche – brodelt das Abendessen über einem offenen Feuer. Dies ist der Anfang eines Dorfes.

 

Das Camp soll später einfachen, aber festen Behausungen weichen. Es beherbergt Menschen, die sich der Landlosenbewegung Movimento dos Trahalbadores Rurais Sem Terra (MST) angeschlossen und nun ein Stück brachliegendes Land eines Grossgrundbesitzers besetzt haben. Kleinbauernfamilien ohne Land sind es, die sich als Landarbeiter und Taglöhner zu Löhnen, die nicht einmal für das Notwendigste reichten, für schwerreiche Grossgrundbesitzer abgerackert haben. Nicht wenige von ihnen schlossen sich den grossen Migrationsströmen in die Städte an, nur um erkennen zu müssen, dass es für sie auch dort keine existenzsichernde Arbeit gibt. Es sind Menschen auf der Flucht vor dem Elend im eigenen Land; Opfer einer Landverteilung, die ein paar Wenige begünstigte und Unzählige in bodenlose Armut stiess. Ein grosser Teil der 400 Millionen Hektaren landwirtschaftlich nutzbarer Fläche ist im Besitz von weniger als einem Prozent der Bevölkerung. Zwei Drittel dieses Landes liegen brach oder werden nur schlecht genutzt, wie dieses hier vor den Toren von Itapicurú mit der grossen, unbewohnten Hacienda und dem privaten Flugfeld.

 

Vor Jahren haben sich landlose Menschen deshalb zusammengeschlossen und brachliegendes Land von Grossgrundbesitzern besetzt. Daraus entstand die Landlosenbewegung MST, die landesweit tätig ist und sich für eine Landreform einsetzt, Sie organisiert die Besetzungen und unterstützt die Landlosen beim Aufbau einer neuen Existenz. Dabei beruft sie sich auf die Verfassung, nach der ungenutztes Land enteignet und verteilt werden kann.

 

Die legale Besetzung von brachliegendem Grossgrundbesitz ist für die Landlosen der Beginn einer schwierigen Zeit. Damit das Land den Besetzern überschrieben wird, verlangt das Gesetz, dass es ein Jahr und einen Tag lang bebaut und fruchtbar gemacht wird. Dies ohne grosse finanzielle Mittel und nur zu oft gegen den Widerstand der ursprünglichen Besitzer und der von ihnen bestochenen Behörden und Polizei durchzusetzen, erfordert einen starken Willen.

 

Gemeinschaftsbildung und Gemeindeaufbau gibt Sicherheit

 

Der Aufbau einer eigenen Existenz kann nur über die Bildung einer Lebensgemeinschaft, in der alle füreinander da sind, die gemeinsam plant und in der alle am gleichen Strick ziehen, erreicht werden.

Das erfordert ein starkes Selbstbewusstsein und einen hohen Organisationsgrad. Beides versucht die Landlosenbewegung MST zu stärken. Dazu gehören Gemeinschaftsbildung und Gemeindeaufbau, die Einführung und Förderung einer nachhaltigen und diversifizierten Landwirtschaft, Programme für Gesundheit und Bildung, Frauenförderung, Stärkung der kulturellen Identität, aber auch Rechtsbeistand.

 

Für die Besetzung und Übernahme von ungenutztem Land hat die Landlosenbewegung MST in ihrer Zentrale in Sâo Paulo durchdachte Strategien entwickelt. Für Geraldo Fontes, den Koordinator im nationalen MST-Kongress, steht dabei nicht nur der Aufbau einer landesweit vernetzten Struktur im Vordergrund, die politische Schlagkraft entwickelt und mit Gewerkschaften und Kirchen zusammenarbeitet. Für ihn ist ebenso wichtig, dass das Movimento dos Trahalbadores Rurais Sem Terra zu einer Bewegung wird, die in der Bevölkerung breit verankert ist. Nur so kann der notwendige Druck auf Behörden und Regierung entwickelt werden, endlich eine Landreform in die Wege zu leiten, die der ganzen Gesellschaft und nicht nur wenigen reichen Familien dient.

 

Urs A. Jaeggi, Brot für alle, Februar 2004