Karfreitagspredigt am 10. April 2009

Jesaja 53,3-5  -  Pfr. Mathias Rissi   Jes 53,3-5

 

 

Liebe Gemeinde

In Frankreich und in Nordafrika dehnen sich an manchen Orten riesige Soldatenfriedhöfe aus. In einem liegen über 3000 britische Soldaten begraben, lauter junge Männer, die kaum älter als 20 Jahre werden durften. Aus allen Ecken des Empire waren sie gekommen, um dort in der nordafrikanischen Wüste zu sterben. Dort steht eine Inschrift im Englisch der King James Bibel: »Greater love hath no man than this…« In unserer Bibel heißt der Vers aus dem Johannesevangelium:  Joh 15,13: Niemand hat größere Liebe als wer sein Leben einsetzt für seine Freunde.
Ich vermute, die wenigsten jener jungen Soldaten seien in diesem Bewußtsein gestorben. Mit solchen Gedanken trösten sich die Hinterbliebenen und die Nachwelt. Sie suchen nach einer Begründung für das schreckliche Geschehen, nach einem Sinn des Todes. Aber damit operieren immer beide Kriegsparteien, ob im 2. Weltkrieg oder in Afghanistan. Und im Tode sind sie dann immer alle Opfer, auch wenn sie vorher Angreifer oder Verteidiger waren, Unschuldige oder Schuldige. Das verwischt Recht und Unrecht.
Zudem wurde die Rede vom Opfer zu oft zu einem leeren Gerede, wenn sie ins Repertoire von Diktaturen und Ideologien aufgenommen wurde.
So wurde es plötzlich modern, nicht mehr von Opfern zu sprechen.

Am heutigen Freitag gedenken wir Christen jenes Opfers, das in der westlichen Kultur seit zwei Jahrtausenden unsere Wahrnehmung vom »Tod für andere« prägt: Jesus, so bekennt die Bibel, ist am Kreuz für die Menschen wie ein Mensch gestorben. Man kann das ganz verschieden verstehen, aber eins ist klar: Selbst für Gott definiert offenbar der Tod den Menschen. Auch der gewaltsame Tod. Der Tod bestimmt den Menschen so sehr, daß gerade im Tode Gott menschengleich wird. Gott, der in den Philosophien und Religionen der Welt unsterblich sein muß, stirbt am Kreuz. Indem er sich dem Tod unterwirft, bekommt sein Opfer eine tiefe Bedeutung - und sei es auch im Wissen, daß er den Tod durch die Auferstehung bald überwunden haben wird -  die Auferstehung, jenes Wunder, an das man nur glaubend aufnehmen kann. Wer je am offenen Grab eines geliebten Menschen gestanden hat, kann sich vorstellen oder weiß, daß der Glaube an ein Danach die Verzweiflung über das Jetzt wirklich lindern kann.

Glaube ist immer auch ein Mittel gegen Verzweiflung im Heute gewesen.

In der Ostergeschichte sind es drei Tage vom Tod bis zu dessen Überwindung, von Golgatha bis zu der Erkenntnis und Gewißheit: »Er ist nicht hier, er ist auferstanden.« Wer darauf vertraut, faßt Mut. Als Mensch braucht man dringend solchen Mut, denn seit Jesus hat es keinen mehr gegeben, der aus dem Grab wiedergekommen wäre. Wir erleben ja immer nur Golgatha.

So schauen wir auf den Gekreuzigten. Wer ist Jesus Christus für uns? Was bleibt heute von ihm?

Gewiß und unbestritten bleibt seine Botschaft von der vorbehaltlosen Liebe.
Und: Seine Solidarität im Leiden ermutigt noch heute Leidende und gibt ihnen Kraft und Geduld.
Aber das Opfer? Muß das sein? Brauche ich einen, der für mich stirbt? – Die Idee, daß sein Tod einen Zusammenhang mit heutigen Menschen haben könn­te und daß er lösende Kraft entfalten könnte für uns - sie befremdet viele.

Gott sei Dank gibt es dieses rätselhafte Prophetenwort vom leidenden Gottesknecht bei Jesaja. Es war, als Jesus starb, bereits 570 Jahre alt. Lange hatte man gefragt und geforscht, wer wohl mit diesem Gerechten gemeint sein könnte, der da stellvertretend geschlagen wird, damit andere Heilung erfahren: Sollte das auf das Volk Israel zutreffen? - Aber so unschuldig und gerecht war das Gottesvolk zu keiner Zeit. Oder sollte es auf einen anonymen Leidenden oder Propheten hinweisen? - Keiner von ihnen hat diese Wirkung gehabt.

Am Karfreitag aber wurde es für einige Menschen klar und später für immer mehr: Dieser hingerichtete Jesus ist der Gottesknecht, der Christus, der Herr. Vielleicht ist schon damals einigen das Jesajawort durch den Kopf gegangen: Doch unsere Krankheiten, er hat sie getragen, und unsere Schmerzen hat er auf sich genommen.

Diese Christuserkenntnis enthält eine unerhört tiefe Selbsterkenntnis. Wahrscheinlich ist darum auch die Begegnung mit dem Gekreuzigten so unangenehm. Sie legt den Finger auf den wunden Punkt. Wir reden nicht von ein paar Fehlerchen. Ich erschrecke: Nicht Jesus am Kreuz ist »lätz gwicklet«*, sondern ich. Indizien dafür finden sich zuhauf:
Wir leben in einer Zeit des hypermoderner Fortschritts. Zugunsten des kurzsichtigen Gewinns und Wohlstands haben wir das Klima und die Natur nachhaltig zerstört. Jahrelang haben wir die Theorien gehört, daß wie die Natur auch die Wirtschaft, Forschung und der Staat dem Gesetz der Evolution gehorchen müßten. Einfach machen lassen! Keine einschränkenden Vorschriften! So werde sich das Gute durchsetzen. Und wir haben zugeschaut und mitgemacht, wenn der Staat reduziert und die Wirtschaft dereguliert wurde. Der Stärkere forderte sein Recht. Und die Dummen können zahlen und die »Gutmenschen« und die Kirche sich um die sozialen Probleme kümmern. Daß wir selber auch mitten drin waren, macht die Sache nicht besser. Wir haben uns ja auch gefreut, als die Pensionskasse uns niedrigere Prämien abverlangte, weil ihre Aktiendepots so unverschämt schöne Gewinne auswiesen.

Wenn wir Menschen »lätz gwicklet« sind, dann kann man das an so viel Leid, Unrecht, Schmerz und Krankheit erkennen. - Wer wollte das 2009 noch bestreiten: Wir sind manche Irrwege gegangen. Wir sind krank. Wir leiden Schmerzen. Und die sind nicht einmal gerecht verteilt.

Das ist geschehen gerade, weil wir dem Blick auf den Gekreuzigten ausgewichen sind! Weil wir Schuld zu Schuldgefühlen verniedlicht haben. Dabei ist genau das der Unterschied, zwischen Evolution und Kultur, daß wir Schuld wahrnehmen und daß wir zu den Schwachen Sorge tragen und der Starke um seine Verpflichtungen weiß und seine Grenzen anerkennt. Das ist seine Schuldigkeit. Das ist das Menschsein, das uns der Gekreuzigte offenbart hat und auf dem so viele zivilisatorische Leistungen der letzten 2000 Jahre beruhten.

Am Karfreitag legt Gott den Finger auf den wunden Punkt: auf ihm lag die Strafe, die unserem Frieden diente, und durch seine Wunden haben wir Heilung erfahren.

Wie können wir das verstehen? Der bekannte, deutsche Pfarrer Wilhelm Busch verglich das kurz nach dem zweiten Weltkrieg mit einer Erfahrung: In einer deutschen Stadt war wie allerorts der Judenhaß genug lang geschürt worden, daß er sich im Pogrom der Reichskristallnacht entlud. Jüdische Geschäfte wurden geplündert, Menschen wurde Gewalt angetan, die Juden getötet oder verjagt und die Synagoge angezündet. - Jahre später haben dann die Bombergeschwader der Alliierten auch über jener Stadt ihre tödliche Bombenlast abgeworfen. Feuerstürme wüteten. Die Menschen erlebten es als das Gericht. Es gab kein Entrinnen. Nur an einem Ort fanden sie Zuflucht vor dem gierigen Feuer: in einer ausgebrannten Ruine. Die enthielt nichts brennbares, sie hatte schon einmal gebrannt: die Ruine der Synagoge. Sie hielt den Schutzsuchenden ihr himmelschreiendes Unrecht vor - und bot ihnen doch Schutz.

Für uns ist das Kreuz dieser Ort des Gerichts - In Jesus Christus ist das Gericht Gottes schon passiert. Am heutigen Karfreitag ruft er uns in Erinnerung, daß die Prophetenworte des Jesaja auch uns verheißen sind. Und daß uns nichts Besseres passieren kann, als daß auch wir zutiefst erschrecken: Wir wären eigentlich die Schuldigen, aber in Christus hat der Ewige unseren Tod auf sich genommen und unsere Schuld erledigt. Und daß wir dann verwundert bekennen: Doch unsere Krankheiten, er hat sie getragen, und unsere Schmerzen hat er auf sich genommen.

Amen

 

 

*"Lätz gwicklet": schweizerdeutsch: sich falsch verhalten, irren

Pfr. Mathias Rissi

 

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