1. Advent, 28. November 2015 - Pfr. Mathias Rissi - Der Neue Abendgottesdienst, Niederweningen
«Daß du den Himmel zerrissest und führest herab!» Jesaja 64,1 Jes 63,19 Js 63,19-641
Dieser
Aufschrei des Propheten steht im Kontrast zum Lichtermeer, das im Advent unsere
Dörfer und Städte erhellt. Aber eigentlich paßt es auf zweiten Blick nicht
schlecht in unsere Zeit. Wer die Ohren nicht verschließt, hört ringsum Leute
jammern: daß der Aufschwung schon zehn Jahre auf sich warten lasse, daß die
verkaufsoffenen Adventssonntage den Umsatzschub bisher nicht gebracht hätten,
daß das Weihnachtsgeschäft nur stockend anliefe und das Portemonnaie den Leuten
tief und fest in der Tasche stecke.
Allerdings: Jesaja jammert nicht – er klagt!
Wo ist da der Unterschied? Nun, Jammern heißt: mir geht’s schlecht - aber auf
hohem Niveau!
Jammern heißt: ich bin nicht zufrieden, aber ich habe mich abgefunden. Ich rechne
nicht mit einer Änderung.
Gott das Leid klagen hingegen heißt: Jetzt ist es genug. Du kannst nicht mehr
länger zuschauen. Reiß deinen Himmel auf! Gott, hast dich abgeschottet? Läßt du
die Erde einfach laufen? So wie es einst vom VW-Käfer hieß: er läuft und läuft
und läuft und läuft….
Man redet im Glauben oft davon, daß die Menschen sich von Gott abgekehrt haben
und nun eben ihre Gottlosigkeit ausbaden müssen. Das alte Testament ist voll von
solchen «weg von Gott und wieder hin zu ihm»-Bewegungen. So kommen die Menschen
manchmal auf die Idee, das Leid und Elend sei eine Strafe Gottes, um die
Menschen dazuzubringen, sich auf Gott zurückzubesinnen… Ich weiß nicht, ob Gott
das nötig hat, wo die Menschen die Kunst, einander zu plagen so perfektioniert
haben. Gewiß aber ist dies richtig und wir haben es wieder und wieder gehört: du
mußt dich Gott zuwenden, die bekehren.
Genau davon spricht Jesaja nicht! Es ist gerade umgekehrt: Gott muß sich wieder
dir zuwenden! Wenn Gott nicht kommt, kannst du alles vergessen! Dann brauchst
gar nicht anzufangen. Gott muß sich zu dir bekehren, damit du dich ihm zukehren
kannst. Laßt mich das mit einer Erfahrung aus meiner frühen Kindheit
demonstrieren. Wenn ich auf dem Stubentisch stand, dann breitete mein Vater
jeweils seine Arme aus, in die ich vertrauensvoll springen konnte, und er fing
mich auf. Einmal ist's geschehen, daß ich auf dem Tisch mich bereit machte, als
mein Vater vorbei kam. Und ich springe – ins Leere, bzw. falle zu Boden, weil er
mich nicht geachtet hatte.
Also: bevor ich mich überhaupt zu Gott hinwenden kann, ist das Entscheidende,
daß er sich mir zuwendet. Das weiß der Prophet Jesaja, darum klagt er: «Daß du
den Himmel zerrissest und führest herab!» - Von Martin Luther stammt die
Empfehlung: «Man muß Gott seine Verheißungen um die Ohren schlagen, bis er sie
hört.» Gott erfüllt nicht alle deine Gebete, aber alle seine Zusagen!
Nun ist es für uns aber anders als für den Jesaja. Gott hat sich zu uns gewandt
und bekannt! Die Adventszeit ist ein Zeuge davon: Jesajas Ruf ist erfüllt! Wir
gehen dem Weihnachtsfest entgegen, am dem wir feiern: Gott hat seinen Himmel
aufgemacht und er selber ist zu uns gekommen: Jesus Christus. Zwar anders als es
der Vorstellung der Menschen entsprach! Eben nicht mit göttlichem Glanz und
Gloria. Gleichwohl in Jesus Christus hat er uns seine Liebe geschenkt als Vater
und Erlöser. Bei seinem Tod am Kreuz wurde das nochmals deutlich: da zerriß im
Tempel der Vorhang zum Allerheiligsten, dem Himmel auf Erden. Jesus überbrückt
die Kluft zwischen Himmel und Erde.
Heute, 2000 Jahre später, wissen wir, daß trotzdem das Problem nicht gelöst ist.
Jesus Christus schenkt uns die ganze Liebe Gottes. Aber das ist noch nicht
alles!
Jesaja hatte noch gemeint, damm mit dem Kommen des Messias
gleich auch die Vollendung käme.
Re hat sich offensichtlich getäuscht. Das kann vorkommen. Ich vergleiche es
gerne mit einer Erfahrung aus den Bergen. Man ist unterwegs zur Hütte, sieht sie
schon lange von weitem. Nur noch jener letzte Anstieg auf jene Anhöhe und dann
sind wir dort. Aber da kann es geschehen, dass das Auge sich täuschen liess,
denn die Hütte steht nicht auf der vermeintlich letzten Anhöhe, sondern ein Tal
weiter hinten auf der nächsten Kuppe. Aus der Ferne waren sie zu einem Punkt
verschmolzen. Es sah aus wie ein Ziel. Genau so müssen wir erkennen, dass
zwischen Christus und der Vollendung des Gottesreiches viel Zeit liegt.
Aber dies bleibt: wir erwarten mehr. Manchmal fällt das schwer,
weil die Zeit lang wird! Und wir haben nur die
Hoffnung. Nur die Hoffnung? Wer sie nicht hat, hat gar nichts. Und immerhin: unsere Hoffnung
hat einen festen Anknüpfungspunkt: Gott hat seinen Himmel schon aufgerissen und
kommt der Welt entgegen. Das ist beileibe kein Vertrösten! – Im Gegenteil,
überall wo in Vergangenheit und Gegenwart christlicher Glaube gelingt, da nehmen
Menschen das Leiden ernst und wehren sich für eine Welt, die die Spuren der
Gottesgegenwart widerspiegelt!
Und gleichwohl ist der Hilfeschrei des Jesaja weiterhin das Gebet des Volkes
Gottes, der Kirche: Gott, mach den Himmel auf, komm zu uns, wie du es verheißen
hast: zur Vollendung – damit die Erde durch das Wohlgefallen Gottes ganz heil
wird.
Amen
Pfr. Mathias Rissi