12. Dezember 2010 - 3. Advent - Kirche Meilen - Predigt Pfr. Mathias Rissi

In Jerusalem beim Schaftor ist ein Teich mit fünf Hallen, der auf hebräisch Bethesda heißt. In den Hallen lagen viele Kranke, die auf die Bewegung des Wassers warteten. Denn ein Engel des Herrn stieg von Zeit zu Zeit in den Teich hinab und wühlte das Wasser auf. Wer nun als Erster hineinstieg nach dem Aufwallen des Wassers, wurde gesund, mit welcher Krankheit er auch behaftet war. Dort war auch ein Mensch, der seit achtunddreißig Jahren an seiner Krankheit litt. Als Jesus diesen liegen sieht und erkennt, daß er schon eine lange Zeit leidet, sagt er zu ihm: Willst du gesund werden? Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich, sobald das Wasser aufgewühlt wird, in den Teich trägt; und wenn ich versuche, selber hinzukommen, steigt ein anderer vor mir hinein. Jesus sagt zu ihm: Steh auf, nimm deine Bahre und zeig, daß du gehen kannst! Und sogleich wurde der Mensch gesund, er nahm seine Bahre und konnte gehen. An jenem Tag aber war Sabbat. Die Juden sagten nun zum Geheilten: Es ist Sabbat, es ist dir nicht erlaubt, deine Bahre zu tragen. Er aber antwortete ihnen: Der mich gesund gemacht hat, hat zu mir gesagt: Nimm deine Bahre und zeig, daß du gehen kannst! Sie fragten ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm sie und zeig, daß du gehen kannst? Der Geheilte wußte aber nicht, wer es war, denn Jesus hatte sich zurückgezogen, da an dem Ort ein Gedränge entstanden war. Später findet ihn Jesus im Tempel, und er sagt zu ihm: Du siehst, du bist gesund geworden. Sündige nicht mehr, damit dir nicht etwas Schlimmeres widerfährt!

 Johannes 5,1f

 

Liebe Gemeinde

Bethesda - wenn man es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, man müßt es erfinden! Ein Ort der Hoffnung, zugleich ein tragischer Ort, ein antikes Lourdes, oder vergleichbar dem Epidauros des griechischen Heilungsgottes Asklepios. Dutzendfaches, hundertfaches, ja tausendfaches Elend von Kranken zusammengebracht auf engsten Raum. Tausendfache Sehnsucht nach Heilung und Heil.

Nun, wir wissen, daß das bis heute so geblieben ist. Auch da wird gerne gesagt: »Hauptsache gesund« – Und nach diesem Motto werden Mittelchen und Wege ausprobiert. Ein milliardenschweres Geschäft ist daraus geworden. Neben den bewährten Mitteln und Methoden bereichern heute neue das Geschäft: Diäten, Sport, Lebensphilosophien bis hin zum Botox, das Falten verschwinden läßt. Mich dünkt, so wolle man dem Tod ein Schnippchen schlagen und sagen: Nimm doch jemand anderes, schau ich bin noch nicht so alt…
Diese unbändige Sehnsucht nach Gesundheit und Heil, in einem Wort: nach Leben, ist die gleiche geblieben.

Das Evangelium sagt uns: Gott weiß und sieht das. Und es gibt uns die gute Nachricht: Christus kommt zu uns: Ihr habt Durst – ich gebe euch Wasser, das nicht versiegt, ihr habt Hunger – ich bin das Brot des Lebens, ihr sucht Freude – ich bin der Weinstock, ihr wollt leben – ich bin die Auferstehung und das Leben! Was ihr sucht –  ich bin’s! Sucht doch nicht am falschen Ort, bei Asklepios, sondern bei Christus.

Was hat dies nun mit dem Advent zu tun? – Die Übereinstimmungen unserer Situation mit dem Bibelwort sind frappant: Alle Jahre wieder feiern wir Advent, die Zeit des Wartens und der Hoffnung. Aber ändert der Advent etwas? Es bleibt doch immer alles beim Alten. Die Menschen arrangieren sich damit und feiern schöne religiöse Bräuche. Aber alles bleibt, wie es war. Nur die Lichter werden immer mehr: Lichtergirlanden, Santaclauses und Reindeers… Aber eigentlich ändert sich nichts, und im Januar werden die Lichterketten wieder weggepackt bis Advent 2011. Ähnlich ist es mit den schönen Hallen: Sie sind eine schöne Verpackung, die das Elend kaschiert. Die Hallen am Teich Bethesda wurden aus Erbarmen errichtet: das Elend soll wenigstens erträglich sein. Aber noch viel lieber wünschten die Menschen, daß endlich etwas passiere, daß der Engel herabstiege. Genau so ist die Adventszeit eine schöne Verpackung für den Riesenschrei nach Heil.

Achtunddreißig Jahre liegt da einer –  achtunddreißig Jahre!!! – Wenn das kein hoffnungsloser Fall ist! Sein Blick wird leer sein. Zu lange hat er warten müssen und nie Hilfe erfahren. Sollte wirklich einmal eine Chance kommen? Erwartet er noch etwas? Achtunddreißig Jahre lang keine Änderung – das ist grausam harte Wirklichkeit.

Aber: Jesus sieht ihn liegen und erkennt, daß er schon eine lange Zeit leidet – Es fällt mir auf, wie der Evangelist Johannes von der quälenden Beschreibung des Elends in der Vergangenheitsform plötzlich ins quicklebendige Präsens wechselt: Jetzt ist Jesu Stunde! Jetzt kommt es darauf an, zu begreifen: in Jesus ist Gott selber in den Hallen am Werk. Warum? Weil in schweren Fällen nur Gott helfen kann? – Unsinn: Alle Fälle sind Gottes Fälle: auch die Gesunden -  alle! Man kann doch äußerlich gesund sein und dennoch diesem seit achtunddreißig Jahren Wartenden zutiefst verwandt. Hier mit Jesus geht es wirklich um Heilung und Heil: Jesus kommt, sieht, erkennt und der tausendmal Übersehene findet Jesu Anteilnahme. Ist das nicht Balsam für die Seele. Genau darauf hoffen wir doch: Du und ich – daß er uns sieht und erkennt.

Warum bloß stellt Jesus dem Kranken die überflüssige Frage: Willst du gesund werden? – Das ist doch klar. Oder doch nicht klar? Jesus muß fragen und er meint damit: »Lebst du noch, willst du wirklich – erwach aus Deiner Resignation. So, jetzt hörst du auf mein Kommando! Jetzt brichst du auf aus den traurig-schönen Hallen!«

Die Pharisäer geben hier nämlich ein trauriges Gegenbeispiel ab. Ja, ich finde, die fünf Hallen haben eine fatale Parallele in der Kirche. Mit den Hallen hat man die Krankheiten in eine würdige Umgebung gebettet und sich mit dem Elend abgefunden. Das machen die Kirchen oft ähnlich: Wieviel schöne, wertvolle Kultur wird darin gepflegt. Liebe Traditionen werden hochgehalten, wohltuende Gemeinschaft und Freundlichkeit sind darin enthalten. Es läßt sich gut so leben – aber das Zentrum des Glaubens, die Hoffnung und die Veränderung bleiben auf der Strecke. Das beschäftigt mich, wenn ich in die Kirchengeschichte schaue und unsere heutige Kirchensituation bedenke. Christus ist nicht nur damals in die Hallen gekommen. Immer wieder ist er zu den Menschen gekommen. Denken wir an Paulus: gegen den Zeitgeist der Antike proklamierte er, vor Gott gebe es keine Unterschiede zwischen Juden und Heiden, Sklaven und Freien, Mann und Frau: Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus. (Gal 3,28) – und schon eine Generation später war die Kirche auf dem Weg zu einer hierarchischen Institution. Und wieder kam Christus und der Glaube erneuerte sich an ihm – doch die Kirche gab jenen Menschen gerne einen »Sandkasten«. Sie durften als Nonnen und Mönche ihre Hoffnung Leben, während die Kirche sich wieder ihrem Geschäft zuwandte. Die Reformation war solch ein wunderbarer Ausbruch des Glaubens – in der darauffolgenden Orthodoxie wurde jedoch wieder in pharisäischer Manier die Religion verwaltet. Es kam die Aufklärung, letztlich durch Reformation und Humanismus ermöglicht. Aber auch da kam Jesus Christus: die Pietisten mit ihrer herzlichen Christusfrömmigkeit haben Gewaltiges erreicht mit ihrer tätigen Nächstenliebe in ihren Waisenhäusern und Spitälern, mit Armenpflege und Diakonie. Und wieder wurde die Kirche darauf saft- und kraftlos. Man erzählt, daß in der stolzen Neumünsterkirche vor 100 Jahren am Sonntag oft nur fünf Menschen im Gottesdienst gewesen seien: der Pfarrer, der Sigrist, der Organist und zwei alte Frauen.

Man glaubte eben an den Fortschritt, ans christliche Abendland. Die sogenannte «liberale Theologie« meinte, bald das Paradies schaffen zu können. Man hatte eine hohe Ethik und den besten Lehrer der Menschlichkeit, Jesus. Man schuf das Schulwesen, Verkehrswesen, Gesundheitswesen – fünf Hallen am Teich Bethesda. Und dann kam der erste Weltkrieg, wo christliche Nationen aufeinander losgingen mit Bomben und Tod, oder gar wie der Kammerjäger auf Schädlinge: mit Gift und Gas. Der Schweizer Pfarrer Karl Barth erschrak damals zutiefst, als er entdeckte, daß seine verehrten liberalen Professoren für diesen Krieg schwärmten. Beim Studium des Römerbriefes erkannte er den Fehler der Kirche: sie hatte Christus, den Erlöser und Heiland vergessen, der Gnade schenkt und Schuld vergibt und den Menschen ermöglicht, sich selber gegenüber ehrlich zu sein. Diese Erkenntnis saß! Christus kam und unsere toten Kirchen wurden wieder belebt. Die heutige Kirche erlebe ich wieder eher so, daß sie Religion verwaltet, daß sie fünf Hallen pflegt. Das sagen auch die Forscher Jürg Stolz und Edmée Ballif in ihrem Bericht über Die Zukunft der Reformierten, daß unsere Kirche wunderbar offen für alle und alles sei, aber daß ihr der Biß und das Profil fehle, die Menschen zu bewegen.
Darum: Hören wir den Ruf: Willst Du gesund werden? Auch heute sagt uns der Advent: Jesus kommt, wie er immer wieder gekommen ist. Und alles wird neu. Die kleine Bemerkung um Sabbat und Sündenfrage im letzten Vers ist nämlich keine Nebensache: Hätte der Geheilte die Liege liegen lassen – niemand hätte sich gestört an ihm. Aber eben, er gehorcht einem neuen Gesetz. Er aber antwortete ihnen: Der mich gesund gemacht hat, hat zu mir gesagt: Nimm deine Bahre und zeig, daß du gehen kannst! So nimmt er an der Freiheit Jesu teil. Er lebt zwar noch in der Alten Welt und doch schon in der Neuen! Klar, leben wir noch in dieser Welt und eine Krankheit wird einst Deine, meine, unsere letzte sein. Aber unser Herz ist schon gewiß, auch dann kommt der Herr und Heiland.

Heute feiern wir zeichenhaft, daß Jesus uns sieht und fragt: Willst du gesund werden? Er ist unser Gastgeber im Abendmahl und reicht uns Brot und Wein, die Zeichen des neuen Bundes. Und im Zeichen des Segens mit Auflegen der Hand hören wir seinen Zuspruch und den Ruf in die Freiheit des Heilands. Aus seiner Gnade empfangen wir das Feuer des Glaubens, Hoffnung und Liebe.
Amen

Pfr. Mathias Rissi

 

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