23. September 2007, Pfr. Mathias Rissi

Jesus und die Frau mit dem Blutfluß  Markus 5,25-34 Mark 5:25 Mk 5,25

Liebe Gemeinde

 

Wie war das, als Sie heute Morgen aufgestanden sind, wie war das? Haben Sie sich auf den neuen Tag gefreut?  Einige ganz gewiß: sie haben sich auf die Taufe gefreut, oder am herrlichen Septembermorgen. Oder fiel Ihnen das Aufstehen heute wieder einmal schwer, vielleicht nach einer schwierigen Nacht oder mit Sorgen für den neuen Tag? Aber auch dann wären Sie gerade richtig heute Morgen im Gottesdienst. Nicht wahr, Sorgen haben wir alle, kleinere oder auch große. Die Frau, von welcher im Markus Evangelium berichtet wird, hat nicht nur kleine Sorgen, sondern sie hat ganz große. Aber sie ist keine Hauptgestalt und gehört nur zur Kategorie »ferner liefen«, denn eigentlich geht es in diesem Abschnitt bereits um die Heilung oder Auferweckung der Tochter des Jaïrus. Was die Frau mit Jesus erlebt, ist nur eingebettet in eine andere Geschichte, die von einem viel wichtigeren Menschen berichtet, eben vom Gang Jesu in das Haus des Synagogenvorstehers Jaïrus. Der war natürlich ein bedeutender Mann.

 

Jesus ist nun zu jenem Haus unterwegs. Da taucht diese Frau plötzlich im Gedränge auf, macht sich an ihn heran, berührt sein Kleid und erfährt Heilung. Jesus dreht sich zu ihr um, spricht sie an, und dann verschwindet die Frau wieder im Gewühl der Strasse. Aber gerade diese scheinbar doch recht zufällige Begegnung will uns sagen, daß Jesus immer dort zu finden ist, wo ein Mensch ihn braucht. Eigentlich kann Jesus jetzt gar keine Zeit für diese Frau haben. Er ist unterwegs zu einem Notfall. Aber nun kreuzt sie seinen Weg und sie ist ihm nicht zu wenig, sich von ihr aufhalten zu lassen, für sie da zu sein. Ja, er hat nicht nur ein bißchen Mitleid mit ihr, sondern er nimmt ihre Not auf sich und läßt die Kraft seiner Hilfe auf sie überströmen. Wo alles für diese Frau hoffnungslos, alles verriegelt war nach zwölf Jahren, öffnet er die Tür zu einem neuen, heilen Leben.

 

Diese Frau ist wirklich ein Beispiel für einen Menschen, der alle Hoffnung verloren hat. Man stelle sich vor: Zwölf Jahre schon leidet sie unter ihrer Krankheit: Blutmangel, Kraftlosigkeit. Sie hat alles probiert, ist von Arzt zu Arzt gereicht worden, hat alles Gut dabei verbraucht – aber es ist nur schlimmer geworden. Und das Schlimmste: Nach den damaligen Gesetzen war sie »unrein«, das heißt: nicht gesellschaftsfähig. Ist nicht nur schon das ein Wunder, daß diese Frau dazu kommt, alles hinter sich zu lassen und  sich diesem Arzt, der Lebensquelle Jesus Christus zuzuwenden?

 

Aber wie seltsam geht das dabei zu. Was hat die Frau wohl von Jesus gewußt? Sie wird ihn selber vorher kaum einmal gehört haben. Aber sie hat sich offensichtlich aus dem Gerede der Menschen ein Bild von ihm gemacht. Aber was für ein Bild? Es war ein völlig verdrehtes Bild. Jesus ist für sie so etwas wie Zauberer oder Magnetopath. Wir müssen es also noch einmal ganz klar sagen: Diese Frau hat ein völlig falsches Bild von Jesus. Sie kommt im wahrsten Sinne, auch im übertragenen Sinne wirklich von hinten zu Jesus. Sie drängt sich durch die Menschenmenge hindurch zu ihm. Sie sagt offenbar zu sich selber: Der soll ja schon manchen geholfen haben. Ich will es wagen. Wenn es mir gelingt, ungesehen von hinten nur einen Zipfel seines Gewandes zu berühren, so wird mir vielleicht geholfen. Und es gelingt ihr, sie berührt den Mantel und wahrhaftig: Ihr Blutfluß versiegt.

 

Aber, liebe Gemeinde, solcher Wunder- und Zauberglaube ist zutiefst unbiblisch. Seit Hunderten von Jahren kämpfen wir Pfarrer dagegen, wenn beispielsweise Eltern ohne Beziehung zur Kirche ihr Kind taufen lassen wollen und meinen es werde das Kind dadurch irgendwie vor Unglück geschützt. Wir alle – ich nehme an, sie alle seien getauft – sind dafür Beweis genug, daß auch getauften Menschen Schicksalsschläge nicht erspart bleiben. Solch ein magischer Glaube an Jesus als Wunderheiler und Zauberkünstler ist doch eigentlich heidnisch und vielleicht in manchen Fällen sogar gefährlich. Seit einiger Zeit kann man an unseren Plakatwänden eine Reklame für Unfallverhütung sehen. Da ist ein Velohelm abgebildet und der Text dazu heißt: »Velohelm tragen oder beten«. Diese Werbung ist gewiß gut gemeint, und wir haben bestimmt nichts dagegen, wenn jemand zum Beten einlädt. Aber wenn man diese Werbung nicht als originellen Gag betrachten würde, sondern die Alternative »entweder Velohelm tragen oder beten« ernst nähme, dann wäre das geradezu gefährlich. Doch es ist nicht etwa so, daß wir Gott nicht zutrauen würden, daß er uns nicht auch ohne Velohelm bewahren kann. Da könnte wohl jedes von uns eine ganze Reihe von Erfahrungen aufzählen, wo Gott uns trotz unserer Unvernunft wunderbar bewahrt hat, auch ohne Velohelm. Gefährlich wird es aber dort, wo wir über Gottes Eingreifen verfügen wollen. Gewiß, Gott kann auch heute Wunder tun, auch dort, wo alle ärztliche Kunst am Ende ist wie bei dieser kranken Frau in dieser Geschichte. Aber, liebe Gemeinde, es gibt in unserem Glaubensleben Momente, in denen es unendlich schwer sein kann, weil dieses Wunder eben nicht geschieht.

Der Apostel Paulus hat das selber erfahren. Er sagt einmal: »Im Glauben gehen wir unseren Weg, nicht im Schauen«.[1] Wir leben noch nicht in der Vollendung des Reiches Gottes. Paulus hatte selber eine unheilbare Krankheit, hat seine Not Gott ausgebreitet und schließlich die Antwort bekommen: »Du hast genug an meiner Gnade«.[2]  Gott hat uns das Heil verheißen, ja, er hat es uns in Jesus geschenkt. Ob er uns die vorläufige irdische Heilung als Zeichen seiner Liebe auch schenken will, das müssen wir seiner väterlichen Liebe überlassen.

 

Diese Frau hat eine total falsche Vorstellung von Jesus, ein total falsches Gottes Bild. Sie reduziert Jesus auf einen Wunderheiler. Aber diese Gefahr war in den 2000 Jahren seither immer da. So wird uns in der Apostelgeschichte berichtet: Nachdem Paulus in Ephesus Wunder der Heilung erleben durfte, hätten die Leute Schweißtücher, die er benützt hatte, mit nach Hause genommen, um sie ihren Kranken hinzulegen in der Hoffnung, daß auch diese geheilt würden. Doch Jesus will kein Zauberer sein. Er kann uns Heilung schenken, aber das große Anliegen ist nicht unsere Heilung, sondern das Heil. Sterben müssen wir ja alle. Sterben mußte später einmal auch diese Frau mit dem Blutfluß. Sterben mußte auch das von Jesus auferweckte Töchterlein des Jaïrus. Ein sichtbares Zeichen aber kann es sein, wenn Gott will, daß uns eine irdische Heilung auf das große Heil, das er uns allen schenken will, hinweist.
Als Zeichen dafür ist ja das Kreuz Jesu in diesen Erdboden verankert worden, damit wir wissen, daß die Schuld dieser Welt, alles, was uns von Gott trennt, überwunden werden darf und muß, und daß wir als Kinder Gottes angenommen worden sind durch Jesus und seinen Tod und seine Auferstehung.

 

Von Jesus ist Heilkraft ausgegangen: Gottes Kraft. Jesus ist der Herr, nicht im fernen Himmelreich, sondern hier auf der Erde. Er hat die Erde geschaffen. Er erhält und trägt sie. Darum soll diese Erde der Ort der Verheißung des großen und endgültigen Sieges über alle Macht der Finsternis sein. Darum ist Jesus gestorben. Darum hat er auf dieser Erde gelebt und ist auf dieser Erde auferweckt worden. Darum will Gott all das eigentlich nicht, was den Menschen quält und verdirbt. Gott sagt wirklich nein zu allem menschlichen Elend. All unser Leid ist sein Leid geworden. Ja, Gott leidet mit uns auf den großen Tag der Erlösung hin. Bei dieser Frau mit dem Blutfluss durfte diese Erlösung für einen kurzen irdischen Moment in besonderer Weise sichtbar werden.

 

Haben Sie gemerkt? Das ist eine Bekehrungsgeschichte, die wir gehört haben, aber ganz anders, als wir es erwarten. Diese seltsame Frau drängt sich also einfach heran, berührt nur kurz den Saum seines Mantels, spürt ihre Heilung, Jesus merkt, daß Kraft von ihm ausgegangen ist und sucht sie. Sie kommt und bekennt. Eigentlich können wir nur staunen. Da kommt eine Frau mit einem völlig verdrehten Gottes Bild zu ihm und am Schluß nennt Jesus das Glaube. Es ist auch schon andern so gegangen, daß sie erst aus dem Munde Jesu hörten, daß sie gläubig seien. Letzte können eben Erste werden, und die, die meinen sie seien Erste, könnten zu Letzten werden. Wie ein großes Geschenk muß es für diese Frau gekommen sein. Sie hätte von sich aus niemals gewagt, ihr furchtsames Berühren seines Mantels Glauben zu nennen.

 

Aber, liebe Gemeinde, steht es mit unserem Glauben denn wirklich anders? Sind nicht alles nur Säume seines Gewandes, die wir mit unserem Glauben erreichen, und wenn wir noch so rechtgläubige Christen oder gar tiefsinnige Theologen wären, und wenn es nur wirklich Jesus ist, den wir berühren, sind wir gerettet. So wird diese doch recht seltsame Geschichte zu einem wunderbaren Trost und zur Freude. Das paßt zu allem, was Jesus gesagt hat, zum Beispiel in den Gleichnissen: Ein bißchen Salz, ein wenig Sauerteig, ein ganz kleines Samenkörnchen.

 

Niemand ist zu schwach, niemand zu alt oder zu rückständig, zu unbedeutend, um mit dem Glauben anzufangen, auch Sie und ich nicht. Es darf das Wunder geschehen, daß Jesus auch heute sagt: »dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden und sei geheilt von deiner Plage!« Wir warten mit Sehnsucht auf den großen Tag, an dem der wiederkommende Herr dieses Wort einmal zu seiner ganzen geplagten und geknechteten Schöpfung sagen wird.
Amen.


 


[1] 2. Kor 5,7

[2] 2. Kor. 12,9

Pfr. Mathias Rissi

 

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