7. April 2018   Matthäus 5,3-11   Niederweningen    Pfr. Mathias Rissi

Matth 5,1-12 1-11

 

Liebe Gemeinde

 

Sie kennen gewiß den provozierenden Werbeslogan, der fett schwarz gedruckt auf großen, tiefrot eingefärbten Plakaten prangte:
 Ich bin doch nicht blöd - so lautet die Botschaft eines Elektronikwarenhauses. Er hat mich immer etwas herausgefordert in Zustimmung, aber auch in Ablehnung.

Ich bin doch nicht blöd, das sagen Menschen, wenn sie es satt haben, immer der hinterletzte Diener und Knecht der andern zu sein. Natürlich ist das Dienen ein christliches Ideal bis hin zur Selbstaufgabe. Aber irgendwann hat jeder genug. Ist das christliche Nächstenliebe, wenn ich tausendmal meine Schere in einem Kinderzimmer holen mußte? Wie oft habe ich es schon gesagt, wie oft habe ich schon Ordnung gemacht, weil es mir zu blöd war, nochmals zu mahnen. Aber müssen Christen immer die Dummen sein? Schön brav christlich helfen und sich verantwortlich fühlen? Man spricht etwa vom «Helfersyndrom», wenn Menschen in ihrer Helferrolle so gefangen seien, daß sie gar nicht anders könnten als helfen, obwohl sie darunter schrecklich litten. Ein Buchtitel formulierte schon vor Jahren treffend: Die «hilflosen Helfer»! Sie bestehen still ihr Martyrium und leiden darunter, weil sie nicht ausbrechen können. Sie brennen aus. Natürlich kann es ein Trost sein, das so zu verstehen, daß Leiden und sich Unterordnen um Christi willen geschehe.
Leiden als Ideal – in der masochistischen Perversion der Flagellantenzüge des Mittelalters: Die Flagellanten waren Menschen, welche gemeinsam durch Europa zogen und sich den Rücken geißelten. Sie meinten, Gott einen Gefallen zu tun, wenn sie sich quälten und selbst erniedrigten.
Da können und müssen wir laut ein erstes Mal «Stop» rufen. Zu oft wurde die Religion mißbraucht, um Mißstände zu legitimieren - anstatt mit christlicher Hoffnung damit aufzuräumen. «Ich bin doch nicht blöd», das ist also eine Überlebensstrategie. Ein Christ muß nicht alles schlucken und leiden und «blöd» sein. Bestätigung dafür finden wir in verschiedenen Bibelstellen, wenn etwa der Psalmbeter aufschreit: «Wie lange» (Psalmen 6,4; 13,2; 35,17 etc). Oder wir erinnern an den Apostel Paulus, in Philippi ohne Prozeß geschlagen und gefoltert, wehrt sich, als er am folgenden Tag aus Philippi sich still und leise verziehen soll: «Sie haben uns ohne Recht und Urteil öffentlich geschlagen, die wir doch römische Bürger sind, und in das Gefängnis geworfen, und sollten uns nun heimlich fortschicken? Nein! Sie sollen selbst kommen und uns hinausführen!» (Apostelgeschichte 16,35ff) Irgendwann ist Schluß mit der Gemütlichkeit. Paulus muß sich nicht alles gefallen lassen! Vielleicht ist nicht unwichtig, daß Paulus an die Ehre Christi denkt, wenn er sich wehrt, und weniger an die seine.
Ehe wir's uns versehen, verhilft uns also das «Ich bin doch nicht blöd» zu Distanz und Freiheit.

Da muß ich ein zweites Mal «Stop» rufen. Hören wir auf das zentrale Wort aus Jesu Bergpredigt, die Seligpreisungen. - Was sagt Jesus (Matth 5,3-12): Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich…
Wie bitte? Dieses Jesuswort ist ein Schlag ins Gesicht der Vernunft!!! Wir möchten Jesus fragen: auf welchem Planeten lebst du denn? Jedes Schulkind weiß, daß deine Theorie vom Glück falsch ist! 
Glücklich die geistlich Armen? – Nein, wer geistreich oder überhaupt: wer reich ist, der ist auf der Sonnenseite des Lebens!
Glücklich die Traurigen? – Nein, die Lustigen haben etwas zum Lachen!
Glücklich die Sanften? – Auf den Managementseminaren heißt es im Gegenteil: Durchsetzen muß man sich!
Glücklich die Hungernden? – Wir sind lieber satt und kämpfen gegen das Übergewicht!
Glücklich die Barmherzigen? – Nein, nur ohne falsche Rücksichten erreicht man im Leben etwas!
Glücklich die reinen Herzens sind? – reinen Herzens sind nur die Naiven! Schlau muß man sein, sonst wird man von jedem x-beliebigen über den Tisch gezogen!
Glücklich die Friedfertigen? – Schön und gut. Im Zweifelsfall nützt es mehr, der Stärkere zu sein!
Glücklich die Verfolgten? – Nein, man muß «Vitamin B», Beziehungen, haben, wissen, wo man anrufen kann, damit sich Türen öffnen, welche für andere verschlossen bleiben!
Jesus, was hast du dir bloß gedacht bei der Bergpredigt: alles liegt quer zu unserer Erfahrung. Es braucht nicht einmal Phantasie, das Gegenteil zu belegen.

Gleichzeitig werden wir stutzig. Ja, wo landen wir denn mit dem «Ich bin doch nicht blöd»? Es entsolidarisiert und schafft Distanz: Ich halte mich raus und schaue nur noch für mich! ... Ich bin überzeugt, dass dies heute die größte Krankheit unserer Gesellschaft ist! Für die Befriedigung des Egos flüchten wir vor Verantwortung und Gemeinsinn und scheuen Kosten und Schmerzen. Manche sind permanent auf der Flucht vor diesen Schatten des Lebens, weil sie's nicht ertragen! - Jesus aber predigt gegen diese Flucht! Noch viel wichtiger: Jesus lebt dagegen.

Liebe Gemeinde, stell dir vor, es wäre anders. Stell dir vor, Gott hätte sich gesagt: Die sollen selber schauen, wie sie glücklich werden. Die sollen selber schauen, wie sie fertig werden mit ihrer Schuld. Die sollen selber schauen, wie sie fertig werden mit ihrer Neigung zur Gewalt! ...
Gott hätte sich nicht eingemischt. Der Gelähmte in Markus 2.
Jesus sieht die erwartungsvollen Blicke der Freunde oben in der Luke. Er schaut den Kranken an: Deine Schuld ist dir vergeben. Und der wird gestrahlt haben!...
Und Jesus hat damit den Zorn der Frommen auf sich geladen, der sich schließlich in seiner Tötung entlädt.
Stellen Sie sich einmal vor, wie trostlos diese Welt aussähe, wenn Gott sich gesagt hätte: «Ich halte meinen Kopf nicht hin für all die Leute» - nicht auszuhalten ist diese Vorstellung!

Jesus gibt uns Anschauungsunterricht. Es geht nicht darum, «Wie verwirkliche ich mich selber?» Sondern: «Was braucht der andere?» – Die Christen haben das in der Folge rasch gelernt. Nicht zuletzt war das ein Grund für den Erfolg des Christlichen Glaubens: Die Nächstenliebe und die Bereitschaft zum Opfer! Natürlich aus dem Bewußtsein: Wenn es dem Mitmenschen gut geht, geht es auch mir gut. Bei Paulus findet dieser Gedanke in kürzester Form so seinen Niederschlag: Traget einer des andern Lasten, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen! (Gal 6,2) Ich ergänze frei nach einer andern Paulusstelle: Wie auch ihr getragen seid durch Christus und die Mitmenschen! (Eph 5,2).
Es ist die ganz große Aufgabe unseres Lebens, daß wir Christus ähnlicher werden. Wir sind wohl ein Leben lang damit beschäftigt, daran herum zu buchstabieren! - z.B. mit den Menschen, mit denen wir zusammenleben. Wir profitieren gegenseitig von unseren Stärken.
Gleichzeitig ist es notwendig, auch die Mankos gegenseitig zu ertragen. Ich erschrecke manchmal, wie wenig man an einem Erwachsenen noch ändern kann - mich inbegriffen...

Eine sehr alte, fröhliche und liebenswürdige Frau hat mir einmal beim Gratulationsbesuch zum 90. Geburtstag erklärt: «Wissen Sie, Herr Pfarrer, daß das Leben so schön sein kann, habe ich erst in den letzten 10 Jahren erfahren. Damals ist mein Mann gestorben.» Ich bin beim Zuhören natürlich ein bißchen erschrocken. Aber sie fuhr gleich fort, daß er mit ihr immer sehr böse gewesen sei, sie geschlagen und beschimpft habe und den ganzen Tag geflucht… «die jungen Frauen heute, die wären längst draus gelaufen, aber wir konnten nicht anders: damals hatten geschiedene Frauen keine wirtschaftliche Überlebensmöglichkeit, und: wo Gott einen hinstellt, da hält man auch aus!» Was hat sie ausgehalten und gedient! Was hat dieser Frau die Kraft gegeben während fast 60 Jahren in ihrem Leben? Das war der Christus, der mit der Bergpredigt das Gottesreich proklamiert und es mit seinem Leben und Sterben in die Tat umsetzt für uns.

Es wird immer eine Gratwanderung sein, zu merken, wo wir uns abgrenzen müssen und wo es ganz ernst gilt, mit Jesus Christus an dieser Welt zu leiden. Ich kenne kein Patentrezept dafür. Ich bin aber sicher, dass es heute angezeigt ist, wieder eher den Dienst und das Opfer neu zu erlernen: Traget einer des andern Lasten, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen!
Heute gedenken wir der Ermordung von Martin Luther King jr. vor 50 Jahren am 4. April 1968.
Er war auch nur ein Mensch, aber glas klar bei der Parteinahme. Seine Worte rütteln auch heute auf:
Am Ende werden wir nicht an die Worte der Feinde denken, sondern an das Schweigen der Freunde.
Oder dies:  Ich beschloss an der Liebe zu kleben, Hass ist zum Tragen eine zu große Bürde!
Am
28. August 1963 kam der Marsch auf Washington an sein Ziel. Dort hielt er die berühmte Rede mit dem Refrain: I have a dream

Dr. Martin Luther King jr. hat am 3. April 1963 am Vorabend der gewaltlosen Aktion zur Aufhebung der Rassentrennung in Birmingham, Alabama, folgende 10 Gebote der Gewaltlosigkeit an die Teilnehmer weitergegeben:
Ich verpflichte mich:
1.            jeden Tag über die Lehren und das Leben Jesu nachzudenken,
2.            nie zu vergessen, dass die gewaltlose Kampagne in Birmingham Gerechtigkeit und Versöhnung anstrebt, nicht den Sieg,
3.            im Geist der Liebe zu wandeln und zu sprechen, denn Gott ist die Liebe,
4.            täglich darum zu beten, das Gott mich beschützen möge, allen Menschen zur Freiheit zu verhelfen,
5.            persönliche Wünsche hintanzustellen, um allen Menschen zur Freiheit zu verhelfen,
6.            im Umgang mit Freund und Feind die Regeln der Höflichkeit zu beachten,
7.            danach zu trachten, stets dem Nächsten und der Welt zu dienen,
8.            mich der Gewalttätigkeit der Faust, der Zunge und des Herzens zu enthalten,
9.            mich zu bemühen, in guter geistiger und körperlicher Verfassung zu leben,
10.          den Anweisungen der Bewegung und des Leiters der Demonstration zu folgen.»

Nun, unsere Demonstration heißt Leben. Darum ist der Leiter unserer Demonstration Jesus Christus.
Es wird immer eine Gratwanderung sein, zu merken, wo wir uns abgrenzen müssen und wo es ganz ernst gilt, mit Jesus Christus an dieser Welt zu leiden.

Gebet
Herr Jesus Christus, mit tiefer Verwunderung kommen wir zu dir. Wir danken dir für dein Wort und für dein Einstehen für diese Welt und für uns. 

Wir bitten dich, begleite und hilf uns, dir ähnlicher zu werden.

Gib uns die Größe, auf Rechthaberei zu verzichten und den Dienst dort anzunehmen, wo du es uns zumutest.

Öffne unsere Augen für die Ungerechtigkeit, daß wir dort Widerstand anmelden und nicht in falscher Frömmigkeit kuschen.

Ändere unsere Blickrichtung, so daß das Gottesreich Orientierungspunkt und Quelle der Hoffnung im Alltag wird.

Wieviel Geduld hast du mit uns. Schenke uns Geduld auch mit unseren Mitmenschen in der Familie und an der Arbeit und in der Gemeinde.

Und wenn wir nicht mehr mögen, gib uns neuen Glauben, neue Hoffnung, neue Liebe.

Amen

Pfr. Mathias Rissi

 

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