29. September 2002  -  Im Visier Gottes  Pfr. Mathias Rissi

 

Psalm 139

1 Ein Psalm Davids, vorzusingen.
   HERR, du erforschest mich und kennest mich.
2 Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne.
3 Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege.
4 Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, HERR, nicht schon wüßtest.
5 Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.
6 Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen.
7 Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht?
8 Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.
9 Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer,
10 so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.
11 Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein -,
12 so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.
13 Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe.
14 Ich danke dir dafür, daß ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.
15 Es war dir mein Gebein nicht verborgen, als ich im Verborgenen gemacht wurde, als ich gebildet wurde unten in der Erde.
16 Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war,
     und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war.
17 Aber wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken! Wie ist ihre Summe so groß!
18 Wollte ich sie zählen, so wären sie mehr als der Sand: Am Ende bin ich noch immer bei dir.
19 Ach Gott, wolltest du doch die Gottlosen töten! Daß doch die Blutgierigen von mir wichen!
20 Denn sie reden von dir lästerlich, und deine Feinde erheben sich mit frechem Mut.
21 Sollte ich nicht hassen, HERR, die dich hassen, und verabscheuen, die sich gegen dich erheben?
22 Ich hasse sie mit ganzem Ernst; sie sind mir zu Feinden geworden.
23 Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich's meine.
24 Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege.

 

Liebe Gemeinde

 

Ist er nicht wunderbar dieser Psalm von der Nähe Gottes?  Speziell der 5. Vers! Er ist so tröstlich, daß er schnell unsere Zustimmung findet – bis auf jene Stelle gegen Schluß natürlich mit Haß und so. Das verletzt unser Ohr. Wie kann einer nur so intolerant sein! Das muß man wohl dem Alten Testament ankreiden. Heute schütteln wir den Kopf im Namen der Toleranz und Nächstenliebe über einen solchen Gewaltausbruch. Ansonsten sind sie sicher einverstanden.

 

Aber Halt! Haben wir etwa vorschnell genickt? Es könnte doch sein, daß einer meint, er hätte alles verstanden und stimme aus vollem Herzen zu, dabei hat er nicht richtig hingehört und darum nichts verstanden oder alles mißverstanden. Es könnte doch auch sein, daß der Psalm Vers für Vers eine tiefere Beklemmung auslöste. Haben wir verstanden? Verstehen ist dabei nicht Frage der Bildung. Søren Kierkegård, der dänische Theologe meinte: «Ein Prediger soll gleichsam so sein, daß die Zuhörer sagen: wo soll ich vor diesem Menschen hinfliehen? Seine Rede holt mich in jedem Versteck ein. Wie soll ich ihn nur loswerden, denn in jedem Augenblick ist er über mir!» Nun, das ist nicht machbar und im Grunde genommen auch eine schreckliche Vorstellung. Ich bin froh, wenn Sie nicht ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn wir einander auf der Straße begegnen. Aber es ist Gottes Geheimnis, wenn er einem Hörer so auf den Leib rückt, wie es dieser Psalm tut. Wenn er es nicht tut, haben wir ihn vielleicht noch nicht verstanden.

 

Der Psalm ist ein Gebet. Es geht einen Weg. Schauen wir diese Bewegung an:

(Zu Vers 1) Ich will dir nichts vormachen: du kennst mich! Besser als die Leute, ja, besser, als ich mich selber kenne

(Zu Vers 2) Auf der Autobahn, auf dem einsamen Waldweg, im Zug - nirgends bin ich allein. Wenn ich den km-Zähler im Auto betrachte - wo war ich denn überall? - Gott du siehst alle meine Wege

Sogar das Wort auf der Zunge! Noch ehe ich es artikuliert habe, und selbst wenn ich es zurückhalte. Seit der Aufklärung gilt: «Die Gedanken sind frei» - sind sie es wirklich? oder doch nicht? Gott, du durchschaust mich von ferne!

Paulus sagt zu den Athenern (Apg 17,27): Gott ist nicht fern einem jeden von uns; denn in ihm leben, weben und sind wir. Bei ihm ist es ein Votum in der Debatte - hier im Psalm kommt man sich vor wie im Gericht: Der Beter sieht sich im Visier des ewigen Gottes. Es drückt ihn: Wie schwer sind mir deine Gedanken, o Gott!

 

Langsam verstehen wir, was hier vor sich geht. Wohin kannst du fliehen vor diesem Gott? Sein Blick und sein Wort holt dich in jedem Versteck ein.

Du kannst dich von den Menschen zurückziehen, ins Innere, Private, in die Gedanken flüchten. Das kann man sogar in einer Diktatur. Niemand kann es wegnehmen. Du kannst Urlaub vom Ich machen – dich einlullen, Alkohol, Medikamente brauchen –  das ist vielleicht «tröstlich», aber es ist eine Selbsttäuschung: Alles ist machbar - nur das eine nicht: daß wir der Gegenwart Gottes ausweichen, vor seinem Blick kneifen.

 

Ist es nicht verständlich, daß viele Menschen, die davon eine Ahnung haben, unbewußt mit Hast und Energie Gründe suchen, um ja nicht mehr an solch einen Gott glauben zu müssen? – Ist am Ende Atheismus auch solch eine Flucht?

 

Wohin soll ich fliehen?  Modern gesagt:

In den Himmel? – zu den Sternen mit der modernsten Technik?

Zu den Toten? –  lebensmüde und leidenssatt? (Vers 8)

Hatte nicht auch Jona versucht Gott davonzulaufen – was nützen die Flügel der Jumbos, welche uns in die entlegensten Winkel der Erde transportieren? (Vers 9)

Sogar wenn es Schatten gibt im Leben. Da stand einmal jemand in der Buchhandlung ratlos vor den Gestellen.. Die Buchhändlerin kommt und fragt: «Suchen Sie etwas bestimmtes?» «Ja, ein Buch für einen Kranken.» - Darauf die Buchhändlerin: «Soll es etwas Religiöses sein?» - Darauf der Kunde: «Nein, nein, es geht ihm schon wieder besser.»

 

Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein  - so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht. (Vers 11)

Hier passiert eine seltsame Wendung, wie wenn dem Beter selbst ein Licht aufginge. Er merkt: ich kann nicht fliehen - aber es ist gut! Es kann nichts besseres geben: ich muß nicht fliehen! Ich darf bleiben!

Bleiben vor den Augen des Richters, die mich unausweichlich durchschauen: Herr, du erforschest mich und kennest mich - und liebst mich dennoch!

 

Ein überwältigendes Schauen erfaßt ihn: Du hast meine Nieren bereitet (Im Hebräischen sind die Nieren der Sitz der Emotionen und Triebe - ähnlich wie bei uns das Herz, aber auch bei uns kennt man den «Bauch» oder die Schmetterlinge im Bauch):   Mein Innerstes und Privates hast du gebildet. Im Mutterleib schon mich erkannt und geliebt.

Es ist erstaunlich: der Psalmbeter erkennt, daß er es mit Richter und Schöpfer in einer Person zu tun hat. Er hat eine Ahnung von Jesus Christus, dem Retter und Richter:

- dem Richter, an dem keiner vorbeikommt
- und dem Retter, der hinabgestiegen ist in unser Loch und Finsternis.

Das ahnt der Mann.

 

Überwältigt, fast geblendet von der Liebe des Richters stammelt er sein Lob.

Es ist freilich ein seltsames Lob mit dieser Haßtirade gegen den Schluß. Man hat das gerne als alttestamentlich abgetan – das stimmt aber nicht: Ein Blick in die Kirchengeschichte (Kreuzzüge, Ketzergeschichten, Hexenverfolgung…) zeigt, daß nach Christus die Intoleranz nicht verschwunden ist.

 

Wir müssen daran denken: Der Psalmbeter hat zwar einiges erkannt, aber er ist immer noch auf der Flucht vor Gott. Da macht er etwas typisch Menschliches. Er lenkt den Blick auf die Feinde, welche doch noch viel übler sind als er.

 

Es ist wirklich seltsam: er redet vom Haß gegen Gottes Feinde - aus Liebe zu Gott! Er möchte Gott in Schutz nehmen, damit er nicht in den Dreck gezogen wird. Aber das kann nicht gut herauskommen. Jahrhunderte später wird Jesus einen anderen Weg beschreiten. Er wird nicht die Feinde hassen und verdammen, sondern sie lieben!

 

Jesus wird die Feinde ertragen bis zum Tod am Kreuz – und den Psalmdichter und uns! Das ist seine Art der Toleranz. Das Wort Toleranz kommt vom Lateinischen und bedeutet tragen. Das war Jesu Antwort: Tragen! Billiger gibt es echte Toleranz nicht!

 

Dagegen ist unser Reden von Toleranz oft wirklich billig, eine Toleranz aus Gleichgültigkeit! Soll doch jeder machen wie er will. Könnte es geschehen, daß unsereiner tolerant ist, weil er Gott, seinem Wort, seiner Liebe und Wahrheit zuwenig Liebe entgegenbringt? Wer weiß ob dieser intolerante Psalmbeter vielleicht näher bei Gott ist, als das meiste, was sich als christliche Toleranz ausgibt? - Wer weiß? - Der Herr weiß es!

 

Am Ende hat es der Psalmdichter selber gemerkt und formuliert darum auch für uns:

Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich's meine. Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege.

Amen

 

Pfr. Mathias Rissi

 

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